Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
ausfüllte. Wenn ich in der Morgendämmerung durch die Stadt lief, ging mir eine Atemwolke voraus, während ich den schweren Rentner-Shopper hinter mir her zog. Ich bog in die kleinen Straßen ein, grüßte demütig und mit fliehendem Blick alle, denen ich begegnete, die rechtmäßigen, gut gekleideten, adretten Anwohner, die zur Arbeit gingen. Mit vom sozialen Kampf geschärftem Auge betrachteten sie abschätzend meinen Anorak, meine Wollmütze, meine fingerlosen Handschuhe, zögerten, ob sie eine Bemerkung machen sollten, gingen weiter und ließen mich gewähren; mit eingezogenen Schultern, kaum sichtbar, warf ich ein Exemplar in jeden Kasten und verschwand wieder. Ich durchlief meinen Sektor nach einem logischen Schema, deckte ihn gewissenhaft mit Reklamemüll ab, der schon am nächsten Tag im Abfalleimer landen würde, und am Ende meiner Tour machte ich immer in einem Bistro an dem Boulevard halt, der Lyon und Voracieux-les-Bredins trennt, und trank um die Mittagszeit ein paar Gläser Weißwein. Um dreizehn Uhr ging ich fort, um eine neue Ladung in Empfang zu nehmen. Man lieferte mir zu fester Stunde das Material für den folgenden Tag, ich musste pünktlich sein und durfte nicht trödeln.
Ich arbeitete nur morgens, denn anschließend sind alle Haustüren geschlossen. Niemand schließt sie: Die Türen beschließen selbst, wann sie öffnen und wann sie schließen. Sie sind mit einer Schaltuhr ausgerüstet, die die für den Briefträger, den Reinigungsdienst und die Lieferanten notwendige Zeit berechnet und anschließend, meistens gegen zwölf, die Haustür blockiert, sodass nur noch jene Zutritt haben, die einen Schlüssel oder den Code besitzen.
Morgens setzte ich also eine Wollmütze auf den Kopf und begann mein Schmarotzerdasein, ich zog den schweren Einkaufstrolley voller Papier hinter mir her und ging von Haus zu Haus, um den Leuten mein Reklame-Ei ins Nest zu legen, ehe sich die Haustüren schlossen. Der Gedanke, dass die Gegenstände selbst über eine so wichtige Handlung wie Schließen und Öffnen entscheiden, ist erbärmlich, aber niemand würde es sonst tun, da wir es vorziehen, unangenehme Arbeiten maschinell erledigen zu lassen, egal ob es sich um körperlich anstrengende oder moralisch unerquickliche Aufgaben handelt. Reklame hat etwas Schmarotzerhaftes, ich verschaffte mir Einlass in die Nester der Leute und deponierte ganz schnell meine Bündel mit fantastischen, schlecht kolorierten Angeboten, dann ging ich ins nächste Haus, ich wollte so viele Zeitungen wie möglich verteilen. Währenddessen zählten die Türen in aller Stille die noch verbleibende Zeit, bis sie sich schließen würden. Um zwölf Uhr setzte sich der Mechanismus in Gang, ich war draußen, konnte nichts mehr tun und schickte mich daher an, das Ende meines kurzen Arbeitstages, einen Feierabend zu ungewöhnlicher Zeit, mit ein paar Gläsern Weißwein an der Theke gebührend zu begießen.
Samstags ging ich schneller. Indem ich meinen Vorrat im Laufschritt verteilte und den Rest der Zeitungen in den Altpapiercontainer warf, sparte ich eine Stunde ein, die ich im selben Bistro am Ende meiner Tour verbrachte. Es kamen auch andere dorthin, die sich wie ich beruflich in einer prekären Situation oder schon im Ruhestand befanden. Wir versammelten uns in diesem Bistro am Stadtrand von Lyon, kurz vor Voracieux-les-Bredins, alles Leute, die am Ende waren oder es bald sein würden, und samstags waren wir dreimal so viel wie an den anderen Tagen. Ich trank meinen Wein mit den Stammgästen und konnte an jenem Tag etwas länger bleiben. Sehr bald nahm mich niemand mehr zur Kenntnis. Ich war jünger als sie und betrank mich sichtlich schneller, das brachte sie zum Lachen.
Zum ersten Mal begegnete ich Victorien Salagnon an einem Samstag in diesem Bistro, und zwar sah ich ihn durch die dicken gelben Kurzsichtigen-Linsen der Weißweingläser um die Mittagszeit, die die Realität verschwimmen, in größere Nähe rücken und sie endlich flüssig, aber nicht greifbar werden lassen, was mir zu jener Zeit durchaus genehm war.
Er saß etwas abseits an einem alten schmierigen Holztisch, wie man sie in Lyon kaum noch fand. Er bestellte sich einen Schoppen Weißwein, den er ganz langsam trank, und las eine Lokalzeitung, die er über den ganzen Tisch ausbreitete. Die Lokalzeitungen haben großformatige Seiten, und so aufgeschlagen nahmen sie den Platz von vier Personen ein, und daher setzte sich nie jemand zu ihm an den Tisch. Gegen Mittag verfügte er in
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