Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
runtergekommen, das hat ein Loch in seine Seele gebohrt, und anschießend ist das Loch immer größer geworden, er sieht inzwischen alles durch dieses Guckloch, durch das Loch der Rassenunterschiede. Was wir dort erlebt haben, konnte den Stärksten vom Hocker hauen.«
»Sie nicht?«
»Ich habe gezeichnet. Das war so, als könnte ich dadurch Dinge wieder zusammennähen, die die Ereignisse zerrissen hatten. Zumindest sage ich mir das heute. Es hat in mir immer etwas gegeben, das sich der Realität entzogen hat; und diesem abwesenden Teil verdanke ich mein Leben. Mariani dagegen ist nicht unversehrt zurückgekehrt. Und ich bleibe jenen treu, die nicht ganz heil zurückgekommen sind, weil ich mit ihnen dort war.«
»Das verstehe ich nicht.«
Er verstummte, stand auf und begann durch sein komisches Wohnzimmer zu gehen. Er ging mit auf dem Rücken verschränkten Händen und bewegte die Kinnlade, als flüstere er etwas und dabei zitterten seine greisen Wangen und sein greiser Hals. Plötzlich blieb er vor mir stehen und blickte mir fest in die Augen, mit seinen hellen Augen, ihre Farbe: durchsichtig.
»Weißt du, das geht auf eine einzige Geste zurück. Ein ganz bestimmter Moment, der nie wiederkehren wird, kann eine Freundschaft auf ewig begründen. Mariani hat mich auf einer Bahre durch den Wald geschleppt. Ich war verwundet und konnte nicht laufen, und da hat er mich in Tonkin durch den Wald getragen. Die Wälder dort sind verdammt steil, und er ist mit mir auf dem Buckel durch den Wald gelaufen, während uns die Vietminh auf den Pelz rückten. Er hat mich bis an den Fluss gebracht, und dort sind wir beide gerettet worden. Du kannst dir nicht vorstellen, was das bedeutet. Steh auf.«
Ich stand auf; er kam auf mich zu.
»Trag mich.«
Ich muss ihn wohl dumm angesehen haben. Er war zwar groß, aber mager und wog bestimmt nicht sehr viel; aber ich hatte noch nie einen Erwachsenen getragen, noch nie einen Mann getragen, noch nie jemanden getragen, den ich gar nicht so gut kannte … Aber ich verliere den Faden: Ich will damit nur sagen, dass ich noch nie das getan hatte, was er von mir verlangte.
»Trag mich.«
Und da nahm ich ihn in den Arm und trug ihn. Ich hielt ihn schräg vor dem Oberkörper, er schlang einen Arm um meine Schultern, seine Füße baumelten in der Luft. Sein Kopf ruhte auf meiner Brust. Er war nicht allzu schwer, dennoch war ich ziemlich überwältigt.
»Bring mich in den Garten.«
Ich tat, was er sagte. Seine Füße pendelten hin und her, ich ging durchs Wohnzimmer, durch den Flur und öffnete mit dem Ellbogen die Türen, er half mir nicht. Er wurde mir zur Last. Behinderte mich.
»Wir haben dort unsere Toten immer mitgenommen«, sagte er ganz nah an meinem Ohr. »Tote sind schwer und unnütz, aber wir haben immer versucht sie mitzunehmen. Und wir haben nie unsere Verwundeten zurückgelassen, auch die nicht.«
Die Haustür war nicht einfach zu öffnen. Ich stolperte leicht auf den Stufen vor dem Hauseingang. Ich spürte die Knochen unter seiner Haut, die mir gegen Arme und Brustkorb drückten. Ich spürte, wie seine greise Haut mir durch die Finger glitt, ich spürte den Geruch eines müden alten Mannes. Sein Kopf wog so gut wie nichts.
»Es ist keine Kleinigkeit, jemanden zu tragen oder getragen zu werden«, sagte er ganz nah bei mir.
Auf dem Mittelweg im Vorgarten muss ich wohl ziemlich blöd ausgesehen haben, mit ihm in den Armen und seinem Kopf an meiner Brust. Ich fand ihn jetzt reichlich schwer.
»Stell dir vor, du müsstest mich zu Fuß bis zu dir nach Hause tragen; und das stundenlang durch einen Wald, in dem es keine Wege gibt. Und wenn du scheiterst, bringen dich die Typen um, die dich verfolgen; und mich bringen sie auch um.«
Das Tor quietschte, und Euridice betrat den Vorgarten. Gartentore quietschen, weil man sich nur selten die Zeit nimmt, sie zu ölen. Sie trug eine Einkaufstasche, aus der ein Baguette hervorragte, sie ging kerzengerade mit großen Schritten und blieb vor uns stehen. Ich setzte Salagnon ab.
»Was macht ihr denn da?«
»Ich erkläre ihm, wer Mariani ist.«
»Dieser Idiot? War er schon wieder da?«
»Er war immerhin taktvoll genug, vor deiner Ankunft wegzugehen.«
»Er hat gut daran getan. Wegen Typen wie ihm habe ich alles verloren. Ich habe meine Kindheit verloren, meinen Vater, meine Straße, meine Geschichte, all das wegen des Rassenticks. Ich halte es nicht aus, wenn ich diese Typen in Frankreich wieder auftauchen sehe.«
»Sie ist eine
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