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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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dem gezeichneten Schwarz und dem übrig gelassenen Weiß, zwischen dem Strich, den ich hinterlasse, und dem Echo, das ohne mein Zutun entsteht und das trotzdem gleichermaßen existiert, ist die Größe des Pinsels.
    Er hat mich gelehrt, dass jungfräuliches Papier nicht weiß ist: Es ist ebenso schwarz wie weiß, es ist gar nichts und alles zugleich, es ist die vom Maler noch unberührte Welt. Die Wahl der Größe des Pinsels bestimmt das Tempo, dem man folgen wird, die Ausmaße, die man sich gewährt, die Breite des Weges, dem unser Atem folgen wird. Nun kann man das Unpersönliche hinter sich lassen, vom »man« zum »wir« übergehen, und bald kann ich sogar »ich« sagen.
    Er lehrte mich, dass die Chinesen nur einen einzigen konischen Pinsel verwenden und im jeweiligen Moment entscheiden, mit wie viel Druck sie ihn aufs Papier setzen. Dem liegt dieselbe Logik zugrunde, denn Druck oder Ausmaß laufen auf das Gleiche hinaus. Mit einer leichten Drehung des Handgelenks bestimmen sie im jeweiligen Moment die Intensität des zu Malenden und den Maßstab der Handlung.
    »Ich habe während des Kriegs in Hanoi einen Demiurgen der Malerei kennengelernt. Er benutzte nur einen einzigen Pinsel und einen Tropfen Tusche in einer Schale aus Speckstein. Mit diesen bescheidenen Mitteln schuf er Werke, die die Macht und Fülle eines Symphonieorchesters besaßen. Er gab vor, diesem Pinsel, den er nach dem Gebrauch lange in klarem Wasser badete und anschließend in eine mit Seide gepolsterte Schatulle legte, einen Kult zu weihen. Er sprach mit ihm und behauptete, keinen besseren Freund zu besitzen. Ich habe ihm das eine Zeit lang abgenommen, aber in Wirklichkeit hat er sich über mich lustig gemacht. Ich habe schließlich begriffen, dass sein einziges Mittel er selbst war, genauer gesagt die Wahl, die er im jeweiligen Moment hinsichtlich der Breite des Pinselstrichs traf, die er sich bewilligte. Er kannte genau den Platz, den sie forderte und die ihr gebührende Modulation war die Zeichnung.«
    Wir malten, bis wir nicht mehr konnten. Wir malten zu zweit, und er lehrte mich, wie ich dabei vorzugehen hatte. Das heißt, ich setzte Pinsel und Tusche ein und er Auge und Stimme. Er beurteilte das Ergebnis meiner Versuche, und dann begann ich erneut; es bestand kein Grund, dass das je ein Ende finden würde. Als mir bewusst wurde, wie müde ich war, war es schon weit nach Mitternacht. Die Tusche, die mein Pinsel verstrich, befleckte nur noch das Papier, ich war nicht mehr imstande, irgendeine Form darzustellen. Er sagte nur noch ja oder nein, und gegen Ende nur noch nein. Ich beschloss, nach Hause zu fahren, denn mein Körper folgte meinen Wünschen nicht mehr, wollte sich trotz meines unersättlichen Drangs nach Tusche nur noch ausstrecken und schlafen.
    Als ich wegging, schenkte er mir wieder ein Lächeln, von dem ich mein ganzes Leben lang zehren könnte. Als ich wegging, lächelte er mir wieder so zu wie bei meiner Ankunft, und das war mir sehr recht. Er öffnete seine hellen Augen, die als Farbe Durchsichtigkeit hatten, und ließ mich an sich heran, ließ mich in sich hineinsehen, und ich ging hinein, ohne mich zu fragen wohin; ich kam wieder, ohne etwas davon mitzubringen, ja ohne sogar etwas gesehen zu haben, aber dieser Zugang zu sich, den er mir bot, erfüllte mich mit Freude. Dieses Lächeln, das er mir bei meiner Ankunft und beim Weggehen schenkte, öffnete vor mir ganz weit eine Tür zu einem leeren Raum. Das Licht drang ungehindert hinein, ich hatte Platz darin, das vergrößerte für mich die Welt. Ich brauchte nur vor mir die Öffnung dieser Tür zu sehen; das genügte mir.
    Ich ging durch Voracieux-les-Bredins. Wirre Gedanken schossen mir durch den Kopf, auf die ich keinen Einfluss hatte; ich ließ ihnen freien Lauf. Während ich die Straßen entlangging, dachte ich an Parzival, den einfältigen Ritter, der tat, was man ihm zu tun befahl, da er an alles, was man ihm sagte, felsenfest glaubte.
    Warum dachte ich an ihn? Wohl wegen dieses leeren Raums voller Licht, zu dem mir Victorien Salagnons Lächeln Zutritt verschaffte. Ich blieb auf der Türschwelle stehen und war glücklich darüber, ohne etwas zu begreifen. Die Geschichte vom Gral spricht nur von diesem Moment: Parzival bereitet ihn vor und erwartet ihn, doch als der Moment da ist, weicht er aus, bedauert es anschließend und sucht ihn erneut. Was ist geschehen? Durch großen Zufall gelangt Parzival, der nicht das Geringste versteht, beim Fischerkönig an. Dieser angelt

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