Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Rundhölzern lösten sich allmählich auf. Die Begeisterung der jungen Franzosen bekam einen Knacks angesichts der Deutschen, die zwar kaum älter, aber von fünf Jahren des Überlebens geprägt waren. Massive Angriffe auf die Deutschen wurden angeordnet, von Offizieren bestimmt, die miteinander wetteiferten und sehr viel zu beweisen oder in Vergessenheit geraten zu lassen hatten. Sie versuchten mit ihren leicht bewaffneten Truppen die Schützengräben der Deutschen zu stürmen und scheiterten. Viele Männer wälzten sich auf der Erde und starben in der Kälte, ohne dass die Deutschen zurückwichen. Die Hierarchie nahm wieder an Bedeutung zu. Der Kampf erforderte Geduld, methodisches Vorgehen und Koordinierung. Das Material wurde sinnvoller eingesetzt, und die Männer wurden ruhig und vorsichtig. An diesem Krieg fand niemand mehr Vergnügen.
Die motorisierten Zuaven kehrten nach Afrika zurück. Victorien rückte bis ins Innere Deutschlands vor, er befehligte als Leutnant eine Gruppe junge Männer, die in verlassenen Gehöften übernachtete und kurze, brutale Angriffe auf versprengte Soldaten der Wehrmacht unternahm, die nicht mehr wussten, wohin sie gehen sollten. Sie nahmen all die gefangen, die bereit waren, sich zu ergeben, und befreiten Gefangene, die derart mager und niedergeschlagen waren, dass sie ihnen Furcht einflößten. Aber der Anblick ihrer hervortretenden Knochen erschreckte sie nicht so sehr wie ihr gläserner Blick; und wie bei Glas kannte der Blick dieser Gefangenen nur zwei Zustände: entweder kristallklar und leer oder zerbrochen.
Das Frühjahr ’45 verging wie ein Seufzer der Erleichterung. Salagnon zog durch die verwüsteten deutschen Lande und befehligte eine Gruppe energischer junger Männer, die nicht lange fackelten. Alles was er anordnete, wurde sofort ausgeführt. Die Menschen flohen vor ihnen, ergaben sich oder versuchten ängstlich, sich mit ein paar französischen Brocken stotternd zu verständigen. Dann ging der Krieg zu Ende und Salagnon musste nach Frankreich zurückkehren.
Er blieb ein paar Monate lang Soldat und kehrte dann ins Zivilleben zurück. »Zurückkehren« ist das gebräuchliche Wort, doch dem, der nie ein Zivilleben kennengelernt hat, mag die Rückkehr wie eine Entblößung vorkommen, ein Absetzen am Wegrand. Man schreibt ihm eine Herkunft zu, die für ihn gar nicht existiert. Was sollte er tun? Was sollte er im Zivilleben schon tun?
Er schrieb sich an der Universität ein, besuchte Kurse, versuchte sich im Denken zu üben. Junge Leute saßen mit gesenktem Kopf in einem Hörsaal und schrieben mit, was ein alter Mann ihnen vorlas. Die Räume waren eiskalt, die Stimme des alten Mannes verlor sich in schrillen Höhen, er hielt inne, um zu husten; eines Tages ließ er seine Aufzeichnungen fallen, sie verstreuten sich über den Boden, und es dauerte lange Minuten, ehe er sie aufgesammelt und murmelnd wieder geordnet hatte; die Studenten warteten mit erhobenem Füller stumm darauf, dass er weitersprach. Er kaufte die Bücher, die man ihm zu lesen auftrug, aber er las nur die Ilias , und zwar mehrmals. Er las auf dem Bett liegend, in einer Leinenhose, mit nacktem Oberkörper und barfuß, wenn es heiß war, und in seinen Mantel eingerollt und unter einer Decke, je näher der Winter heranrückte. Er las immer wieder die Beschreibung des furchtbaren Handgemenges, in dem Bronzewaffen Gliedmaßen ausrenkten, Kehlen durchtrennten, Schädel durchstießen, ins Auge stachen und im Nacken wieder heraustraten und die Kämpfer in den schwarzen Tod stürzten. Er las zitternd und mit offenem Mund, wie Achilles in seinem Zorn den Tod des Patroklos rächt. Allen Regeln entgegen schneidet er den gefangenen Trojanern die Kehle durch, misshandelt die Leichen und herrscht die Götter an, ohne je seinen Heldenstatus zu verlieren. Er geht auf die widerwärtigste Weise mit den Menschen, mit den Göttern und mit den Gesetzen des Universums um, und dennoch bleibt er ein Held. Salagnon erfuhr in der Ilias , in einem Buch, das man seit der Bronzezeit rezitiert, dass ein Held nicht unbedingt ein guter Mensch sein muss. Achilles strotzt vor Vitalität, er bringt den Tod, so wie ein Baum Früchte hervorbringt, er zeichnet sich durch Glanzleistungen, Tapferkeit und Heldentaten aus, doch er ist kein guter Mensch; er stirbt, aber er braucht kein guter Mensch zu sein. Was tat Salagnon anschließend? Nichts. Was konnte man danach noch tun? Er schloss das Buch wieder, kehrte nicht mehr an die Universität
Weitere Kostenlose Bücher