Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
leerte sein Glas und schenkte sich nach. Er lachte überhaupt nicht mehr, die Lachfalten in seinem Gesicht schienen ausgedient zu haben, stattdessen hatte er andere bekommen, die ihn älter machten.
»Weißt du, was hier im vorigen Jahr passiert ist? Mit einem Schlag hat sich alles geändert, alles was wir bis dahin für fest und unverbrüchlich gehalten hatten, war plötzlich nur noch aus Pappe, futsch, weggeflogen, zerfleddert. Und damit es dazu kam, waren nur eine Fahne und ein Schuss erforderlich. Ein Schuss zur Zeit des Aperitifs, wie in einem Melodram.
Als die Deutschen da oben im Norden endlich beschlossen haben, mit dem Wahnsinn aufzuhören, wollten die Araber den Tag des Sieges gebührend feiern. Sie wollten zeigen, dass auch sie sich freuten, dass wir gewonnen hatten, das Problem ist nur, dass es unterschiedliche Ansichten gab, wer mit dem ›wir‹ gemeint ist. Sie wollten den Sieg feiern und ihre Freude zum Ausdruck bringen, dass wir gewonnen hatten, aber auch, dass jetzt, nachdem wir gewonnen hatten, nichts mehr so sein würde wie zuvor. Und daher haben sie demonstriert, in einem geordneten Aufmarsch, und haben eine algerische Fahne geschwenkt, aber die algerische Fahne ist hier verboten. Ich finde die algerische Fahne vor allem absurd, denn ich weiß nicht recht, für wen sie da ist. Aber sie haben sie herausgeholt und muslimische Pfadfinder haben sie getragen. Ein Typ ist aus einem Café gekommen, ein Polizist, und als er all diese Araber in Reih und Glied mit dieser Fahne auf der Straße gesehen hat, hat er an einen Albtraum geglaubt und es mit der Angst gekriegt. Er hatte eine Waffe bei sich, hat sie gezogen und geschossen, und der kleine muslimische Pfadfinder, der die algerische Fahne trug, ist zu Boden gestürzt. Dieser Idiot, der in einem Café seinen Aperitif trank und seine Dienstwaffe dabei hatte, hat einen Aufruhr ausgelöst. Normalerweise hätte man die Leute wieder beruhigen können, es war nicht das erste Mal, dass ein Araber wegen einer etwas vorschnellen Reaktion getötet wurde; aber diesmal waren sie in Reih und Glied aufmarschiert, hatten die verbotene algerische Fahne dabei, und es war der 8. Mai, der Tag des Sieges, unseres Sieges, aber es gibt unterschiedliche Ansichten, wer mit ›wir‹ gemeint ist.
Und da ist der Aufruhr ausgeartet, denn plötzlich wurden Leute nur wegen ihres Aussehens umgebracht, wegen ihres Gesichts massakriert. Dutzenden von Europäern wurde mit allen möglichen Werkzeugen der Bauch aufgeschlitzt. Ich habe manche von ihren genäht, sie hatten grässliche, schmutzige Wunden. Die Verletzten, die nicht total in Stücke gerissen worden waren, standen furchtbare Qualen aus, denn die Wunden begannen zu eitern; aber vor allem hatten sie panische Angst, eine Angst die viel schlimmer war als alles, was ich während des Kriegs erlebt habe, als die Deutschen uns ganz methodisch beschossen. Diese Verletzten glaubten sich in einen Albtraum versetzt, denn die Leute, mit denen sie zusammengelebt hatten, die Leute, denen sie begegneten, ohne sie wahrzunehmen, und die sie jeden Tag auf der Straße streiften, stürzten sich plötzlich mit messerscharfen Werkzeugen auf sie und stachen auf sie ein. Sie litten stärker am Unverständnis als an ihren Verletzungen; und dabei waren ihre Wunden furchtbar tief, denn sie waren ihnen mit Werkzeugen zugefügt worden, die im Garten oder in der Fleischerei benutzt werden, man hatte ihnen damit die Organe zerrissen; aber das Unverständnis war noch größer, steckte tief im Herzen der Leute, tief in ihrem Innern. Wegen dieses Unverständnisses starben sie aus panischer Angst, weil diejenigen, mit denen sie zusammenlebten, sich plötzlich gegen sie gerichtet hatten. So als ob dein treuer Hund sich ohne Vorwarnung umdreht und dich beißt. Kannst du dir das vorstellen? Dein treuer Hund, du ernährst ihn, und plötzlich springt er dich an und beißt dich.«
»Sind die Araber etwa Ihre Hunde?«
»Warum sagst du das, Victorien?«
»Weil Sie das gesagt haben.«
»Das habe ich nicht damit gemeint. Ich habe nur einen Vergleich gezogen, damit du die Überraschung und den Vertrauensbruch verstehst. In wen hat man schon größeres Vertrauen als in seinen Hund? Er besitzt scharfe Zähne, mit denen er dich töten könnte, aber er tut es nicht. Und wenn er es tut, wenn er dich beißt, was er bisher nie getan hat, ist das Vertrauen plötzlich zerstört wie in einem Albtraum, in dem sich alles gegen dich wendet und wieder seiner eigentlichen Natur
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