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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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kleine weiße Kartons. Aus Marseille schickte er ihr manche davon als Postkarten. Auf der Rückseite schrieb er ein paar knappe Neuigkeiten aus seinem Leben. Sie antwortete ihm nie.
    Er sah seinen Onkel wieder, der aus Indochina zurückgekommen war; er hatte ein paar Wochen in einem Zimmer verbracht, ohne sein Gepäck auszupacken, er wartete darauf, wieder nach Indochina zurückzukehren. Er habe in Frankreich nichts verloren, sagte er. »Ich wohne jetzt in einer Kiste.« Das sagte er ohne zu lachen und sah dabei seinem Gesprächspartner in die Augen, der den Blick abwandte, denn er dachte an vier Bretter aus Tannenholz und wusste nicht, ob er lächeln oder erschauern sollte. In Wirklichkeit sprach er von einer nicht sehr großen, grün lackierten Metallkiste, in der sich all seine Habe befand und die ihm überallhin folgte, wohin er ging. Er hatte sie mit nach Deutschland genommen, nach Nord- und Äquatorialafrika, und jetzt nach Indochina. Der Lack blätterte stellenweise ab, die Seitenwände waren verbeult. Er klopfte liebevoll darauf, sie klang hohl.
    »Sie ist mein eigentliches Zuhause, denn darin befindet sich alles, was ich besitze. Die Totenkiste ist unser letztes Zuhause, aber ich wohne schon jetzt darin. Ich nehme die Sache vorweg. Wie es scheint, zielt die Philosophie darauf ab, sich auf den Tod vorzubereiten. Ich habe diese Bücher, in denen das erklärt wird, nicht gelesen, aber ich begreife diese Philosophie, indem ich sie anwende. Das ist ein ansehnlicher Zeitgewinn angesichts der Tatsache, dass mir allzu viel Zeit nicht vergönnt sein wird: Bei dem Leben, das ich führe, dürfte ich schneller als die meisten von uns das Zeitliche segnen.«
    Sein Onkel lachte nicht. Victorien wusste, dass er keinen Humor besaß: Er sagte einfach, was er zu sagen hatte, und zwar so direkt, dass man es für einen Scherz halten konnte. Doch in Wirklichkeit nannte er die Dinge ganz einfach beim Namen.
    »Warum hörst du nicht auf?«, fragte Victorien trotzdem. »Warum gehst du jetzt nicht nach Hause?«
    »Wohin denn? Seit ich die Kindheit hinter mir habe, führe ich Krieg. Und selbst als Kind habe ich das im Spiel getan. Anschließend habe ich meinen Wehrdienst abgeleistet und gleich darauf kam der Krieg. Ich bin in Gefangenschaft geraten, und dann bin ich ausgebrochen, um erneut Krieg zu führen. Ich habe mein ganzes Leben als Erwachsener damit verbracht, Krieg zu führen, obwohl ich das nie geplant hatte. Ich habe immer in einer Kiste gewohnt, ohne mir etwas anderes vorzustellen, und sie hat genau die richtige Größe für mich. Ich kann alles, was ich zum Leben brauche, in den Händen halten und kann es tragen, ohne dass mich das allzu sehr ermüdet. Was für ein anderes Leben sollte ich schon führen? Jeden Tag zur Arbeit gehen? Dazu fehlt mir die Geduld. Mir ein Haus bauen? Das wäre zu groß für mich, das könnte ich nicht aufheben, um es zu versetzen. Wenn man nicht an einem Ort bleibt, kann man nur eine Kiste mitnehmen. Und eines Tages enden wir alle in einer Kiste. Warum sollte ich also einen Umweg machen? Ich trage mein Haus mit mir und ziehe durch die Welt, ich tue das, was ich immer getan habe.«
    In dem kleinen Zimmer, in dem er seine untätigen Tage verbrachte, war nur für ein Bett und einen Stuhl Platz, auf dem seine gefaltete Uniform lag; Victorien hatte sie vorsichtig zur Seite gelegt, ohne sie zu zerknittern, und sich ganz steif auf den Rand gesetzt, ohne sich anzulehnen. Sein Onkel lag barfuß und mit übereinandergeschlagenen Füßen auf dem Bett, hatte die Hände im Nacken verschränkt und blickte an die Decke.
    »Welches Buch würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?«, fragte der Onkel.
    »Darüber habe ich nie nachgedacht.«
    »Das ist eine blöde Frage. Niemand geht auf eine einsame Insel, und diejenigen, die sich dort befinden, sind nicht vorgewarnt worden: Sie hatten keine Zeit, eine Wahl zu treffen. Die Frage ist dumm, weil sie völlig unverbindlich ist. Aber ich habe mich auf das Spiel der einsamen Insel eingelassen. Denn diese Kiste ist meine Insel, und daher habe ich mich gefragt, welches Buch ich in meiner Kiste mitnehmen soll. Die Soldaten der Kolonialarmee können durchaus gebildet sein, denn sie haben bei ihren Schiffsreisen und in den langen Nächten an Orten, an denen es zum Schlafen zu heiß ist, genug Zeit zu lesen. Ich habe immer die Odyssee bei mir, ein Buch, das die langen Irrfahrten eines Mannes erzählt, der sich bemüht, in seine Heimat zurückzukehren, aber den Weg nicht

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