Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
nicht wiedererkennen. Sie ähneln sich zu sehr, sind alle gleich angezogen, wir wissen gar nicht, wen oder was wir töten. Aber wenn wir in einen Hinterhalt geraten und sie im Elefantengras oder auf den Bäumen versteckt sind, töten sie uns ganz methodisch, schlachten uns ab wie Fische. Ich habe noch nie so viel Blut gesehen. Überall auf dem Laub, auf den Steinen, auf den Grünpflanzen an den Flussarmen, der Schlamm färbt sich rot.
Hör mal, das ist genau wie in einer Passage der Odyssee . Diese Passage hat mich an die Fische denken lassen.
Da verheert’ ich die Stadt und würgte die Männer.
Jetzo warnet’ ich zwar die Freunde, mit eilendem Fuße
Weiter zu fliehen; allein die Unbesonnenen blieben.
Aber es riefen indes die zerstreuten Kikonen die anderen
Nahen Kikonen zu Hilfe, die tapferer waren und stärker,
Aus der Mitte des Landes. Sie waren geübt, von den Wagen
Und wenn es nötig war, zu Fuß mit dem Feinde zu kämpfen.
Zahllos schwärmten sie jetzt, wie die Blätter und Blumen des Frühlings,
Mit dem Morgen daher. Da suchte Gottes Verderben
Uns Unglückliche heim und überhäuft’ uns mit Jammer …
Weil der heilige Tag noch mit dem Morgen emporstieg,
Wehrten wir uns und trotzten der Übermacht der Kikonen.
Aber da nun die Sonne zur Stunde des Stierabspannens
Sank, da siegte der Feind und zwang die Achaier zum Weichen.
Jedes der Schiffe verlor sechs wohlgeharnischte Männer,
Und wir andern entflohn dem schrecklichen Todesverhängnis.
Also steuerten wir mit trauriger Seele von dannen,
Froh der bestandnen Gefahr, doch ohne die lieben Gefährten.
Doch nicht eher enteilten die gleichgeruderten Schiffe,
Ehe wir drei Mal jedem der armen Freunde gerufen,
Welche der siegende Feind auf dem Schlachtgefilde getötet …
Scheiße! Da ist das nicht. Ich hätte schwören können, dass dort die Rede von einem Massaker an Fischen ist. Gib mir das Buch.«
Er richtete sich auf dem Bett auf, riss Victorien das abgenutzte Buch aus den Händen, der es ganz vorsichtig gehalten hatte, aus Angst, es könnten ein paar Seiten herausfallen, und blätterte es wütend und rücksichtlos durch.
»Ich hätte schwören können … Ach, da ist es! Die Laistrygonen. Ich habe die Laistrygonen mit den Kikonen verwechselt. Hör zu. Denn nicht weit sind die Triften der Nacht und des Tages entfernet … Hör zu …
Und er erhob ein Gebrüll durch die Stadt, und siehe, mit einmal
Kamen hierher und dorther die rüstigen Laistrygonen
Zahllos zuhauf; sie glichen nicht Menschen, sondern Giganten.
Diese schleuderten jetzt von dem Fels unmenschliche Lasten
Steine herab; da entstand in den Schiffen ein schrecklich Getümmel,
Sterbender Männer Geschrei und das Krachen zerschmetterter Schiffe.
Und man durchstach sie wie Fische und trug sie zum scheußlichen Fraß hin.
Da ist es! Und danach.
Und wir stiegen ans Land, wo wir zwei Tag’ und zwei Nächte
Ruhten, zugleich von der Arbeit und von dem Kummer entkräftet.
Homer spricht über uns, und zwar viel besser als die Wochenschau. Über diese kleinen pathetischen Filme, die sie im Kino zeigen, muss ich immer lachen: Sie zeigen überhaupt nichts; was der alte Grieche da erzählt, entspricht dem, was ich seit Monaten in Indochina erlebe, viel besser. Aber ich habe die Gesänge verwechselt. Siehst du, ich kenne das Buch noch nicht gut genug. Wenn ich es endlich auswendig kenne wie ein Grieche, ohne mich zu irren, habe ich mein Ziel erreicht. Und dann garantiere ich für nichts mehr.«
Die Hände auf der Bettdecke und das zugeschlagene Buch auf den Knien liegend rezitierte er mit geschlossenen Augen halblaut zwei Gesänge. Er lächelte glücklich. »Odysseus ist auf der Flucht und wird von ziemlich vielen Typen verfolgt, die ihm nach dem Leben trachten. Seine Kameraden sterben alle, aber er bleibt am Leben. Und als er nach Hause kommt, schafft er Ordnung, tötet jene, die seine Speicher geplündert haben und entledigt sich all derer, die daran beteiligt waren. Anschließend, als es Abend wird, ist kaum noch jemand da, der Saal ist von Toten und Trümmern übersät. Dann kehrt endlich Frieden ein. Es ist vorbei. Das Leben kann neu beginnen, zwanzig Jahre, um wieder ins Leben zurückzukehren. Victorien, glaubst du, dass wir zwanzig Jahre brauchen, um mit diesem Krieg fertigzuwerden?«
»Das kommt mir sehr lang vor.«
»Ja, das ist lang, zu lang …«
Dann streckte er sich wieder aus, legte das Buch auf die Brust und sagte nichts mehr.
Der November ist für nichts gut.
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