Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Der Himmel ist niedrig, die Zeit zieht sich zusammen, die Blätter an den Bäumen verkrampfen sich wie die Hände eines Sterbenden. Und fallen. In Lyon steigt Nebel über den Flüssen auf wie dichter Rauch, der sich über ein Laubfeuer erhebt, bloß umgekehrt. Es ist genau das Gegenteil, denn es handelt sich nicht um Rauch, sondern um Feuchtigkeit, nicht um Flammen, sondern um Flüssigkeit, nicht um Hitze, sondern um Kälte. Der Nebel steigt nicht auf, sondern kriecht und breitet sich aus. Im November ist von der Freude, frei zu sein, nichts mehr übrig geblieben, Salagnon war kalt, sein Mantel wärmte ihn nicht mehr. Sein Dachzimmer ließ die Luft von draußen herein, die feuchten Wände verjagten ihn, sodass er nach draußen ging und mit den Händen in den Taschen, eng geschnürtem Mantel und hochgeschlagenem Kragen ohne bestimmtes Ziel durch die Stadt lief, durch die Nebelschwaden, die an den Fassaden entlangglitten und sich von ihnen lösten wie Bahnen feuchten Papiers.
Es fiel ihm schwer zu zeichnen. Dazu muss man innehalten und Formen auf sich zukommen lassen, die dann zu Papier gebracht werden; und man braucht eine kribbelnde Empfindlichkeit der Haut, die man bei dieser feuchten Kälte aber nicht entblößen kann. Zittern und Kribbeln verschmelzen miteinander, bekämpfen sich gegenseitig und verausgaben sich schließlich beim planlosen Wandern durch die Stadt, das nur dazu dient, die Unruhe zu vertreiben.
In Gerland blieb er staunend vor den Füßen einer gekreuzigten Christusfigur stehen. Er war am Schlachthof entlanggegangen, der seine Tätigkeit in verlangsamtem Rhythmus wieder aufgenommen hatte, dann am großen grasüberwucherten Stadion unter freiem Himmel, er war einen ganzen Novembertag diese Avenue entlanggelaufen, die nirgendwohin führte, und war schließlich vor einer Kirche aus Beton stehengeblieben, auf deren Fassade sich ein Basrelief mit einer riesigen Christusfigur befand, die bis zum Giebel reichte. Man musste den Kopf heben, um sie ganz zu sehen, ihre Füße ruhten auf dem Boden, ihre Knöchel waren schon in Kopfhöhe der Betrachter, und ihr Kopf verschwand in grünem Nebel, der aus der Ferne nichts mehr erkennen ließ. Dadurch dass Salagnon so nah davorstand und den Kopf heben musste, verzerrte sich die Perspektive des Leibs wie bei einem Krampf, und das Standbild drohte die Nägel herauszureißen, die es an den Handgelenken an der Wand hielten, umzukippen und Salagnon zu zermalmen.
Er betrat die Kirche, deren gleichmäßige Temperatur ihm tröstlich vorkam. Das dürftige Novemberlicht drang nicht durch die dicken Kirchenfenster, es verflüchtigte sich im Inneren der Glasbausteine, die wie kurz vor dem Erlöschen befindliche rote, blaue oder schwarze Glut aufleuchtete. Alte Frauen trippelten stumm durch die Kirche, erledigten, ohne den Kopf zu heben, mit Mäuseeifer klare Aufgaben, die sie auswendig kannten.
Der November taugt zu nichts, dachte er und zog den zu dünnen Mantel, der ihn nicht ausreichend wärmte, enger um sich. Aber es ist nur eine unangenehme Zeit, die vorübergeht. Der Gedanke, dass der Umstand, jung, stark und frei zu sein, nur eine unangenehme Zeit war, die vorüberging, betrübte ihn. Er hatte sein Leben wohl ein bisschen zu schnell begonnen und empfand plötzlich eine große Müdigkeit. Man rät Langstreckenläufern zu Beginn nicht zu schnell zu laufen, sondern langsam anzufangen, um Reserven zu bewahren, falls ihnen irgendwann der Atem ausgehen oder sie Seitenstiche haben sollten, die sie zwingen würden aufzugeben. Er wusste nicht, was er tun sollte. Der November, der zu nichts gut war und sich endlos hinzog, kam ihm wie sein eigenes Ende vor.
Ein Priester trat aus dem Halbdunkel und ging durch das Kirchenschiff; seine Schritte wurden von dem Gewölbe so laut zurückgeworfen, dass Salagnon ihm ungewollt mit den Blicken folgte.
»Brioude!«
Der Name hallte durch die Kirche, die alten Frauen zuckten zusammen. Der Priester wandte sich abrupt um, kniff die Augen zusammen, musterte das Halbdunkel, und dann erhellte sich sein Gesicht. Er ging mit ausgestreckter Hand auf Salagnon zu, wobei die Soutane seine eiligen, großen Schritte behinderte.
»Das trifft sich gut«, sagte er ohne Umschweife. »Ich bin heute Abend mit Montbellet verabredet. Er ist für achtundvierzig Stunden in Lyon, anschließend geht er wer weiß wohin. Wir dürfen ihn nicht verpassen. Komm um acht Uhr. Du brauchst nur unten am Pfarrhaus zu klingeln.«
Er wandte sich ebenso abrupt wieder um und
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