Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
ließ Salagnon mit noch ausgestreckter Hand dort stehen.
»Brioude!«
»Ja?«
»Sag mal, geht’s dir gut … nach so langer Zeit?«
»Ja, ja. Darüber sprechen wir heute Abend.«
»Ist das nicht eine Überraschung, dass wir uns hier wiedertreffen?«
»Das Leben überrascht mich nicht mehr, Salagnon, ich akzeptiere es. Ich lasse die Dinge auf mich zukommen, und anschließend versuche ich, ihren Lauf zu verändern. Bis heute Abend.«
Er verschwand im Halbdunkel, gefolgt vom klappernden Geräusch seiner Schuhe auf den Steinplatten, dem Schlagen einer Tür und dann nichts mehr. Eine alte Frau rempelte Salagnon mit einem gereizten Zungenschnalzen an, trippelte zu einem Kerzenständer mit zahlreichen Eisenspitzen vor einer Heiligenfigur. Sie steckte eine ganz kleine Kerze auf eine der Spitzen, zündete sie an und bekreuzigte sich rasch. Anschließend starrte sie den Heiligen stumm an mit einem Blick der Verbitterung, den man jenen vorbehält, von denen man viel erwartet und die diese Erwartung nicht erfüllen; oder nur schlecht; oder nicht so, wie sie es eigentlich tun müssten.
Sie wandte den Kopf um und warf Salagnon, der auf den Ausgang zulief, den gleichen Blick zu. Auf dem Platz vor der Kirche versuchte er seinen Kragen aufzurichten, doch er war zu kurz; er reckte die Schultern in die Höhe, zog den Kopf ein und entfernte sich, ohne sich umzuwenden, um nicht die furchtbar gekrümmte Christusfigur zu sehen. Er wusste nicht, wo er die Stunden bis zum Abend verbringen sollte, aber der Himmel kam ihm schon nicht mehr ganz so krank vor; er wirkte nicht mehr ganz so wie schmutziges Gummi, das langsam in sich zusammensinkt. Bald würde es richtig dunkel sein.
Das Pfarrhaus dieser Kirche, in dem Brioude wohnte, glich einer Absteige oder einem Jagdquartier, in dem niemand für längere Zeit bleibt, einem Biwak, in dem man nur ein paar Nächte auf der Durchreise verbringt. Die Farbe an den Wänden blätterte ab und ließ die älteren Schichten darunter erkennen, die kalten großen Räume waren voller Möbel, so wie man sie auf einem Dachboden unterbringt, voller Stapel Bretter und an die Wand gelehnter, aus den Angeln gehobener Türen. Sie aßen in einem schlecht beleuchteten Raum, in dem sich die Tapeten von den Wänden lösten und der staubige Holzfußboden nach Bohnerwachs dürstete.
Sie aßen gleichgültig lauwarme, zu weich gekochte Nudeln und einen Rest Fleisch in Soße, den Brioude aus einem verbeulten Schmortopf servierte. Beim Aufgeben ließ er den Schöpflöffel laut auf ihre Teller knallen, und schenkte ihnen einen starken Côte du Rhône ein, den er aus einem kleinen Holzfass in einer dunklen Ecke des Raums zapfte.
»Das Essen, mit denen die Kirche ihre Schäflein nährt, ist nicht besonders«, rief Montbellet, »aber sie hat schon immer guten Wein gehabt.«
»Deshalb kann man dieser ehrenwerten Institution vieles verzeihen. Sie hat viel gesündigt, viele Irrtümer begangen, aber sie versteht sich auf den Rausch.«
»Du bist also Priester geworden. Ich hätte nicht gedacht, dass dich so ein Leben reizen könnte.«
»Das hatte ich auch nicht gedacht. Das Blut hat mir den Weg gezeigt.«
»Das Blut?«
»Das Blut, in dem wir gebadet haben. Ich habe unglaublich viel Blut gesehen. Ich habe Typen gesehen, deren Schuhe vom Blut jener durchnässt waren, die sie gerade getötet hatten. Ich habe so viel Blut gesehen, dass es für mich wie eine Taufe war. Ich bin in Blut gebadet worden, und das hat mich verwandelt. Als das Blutbad endlich vorbei war, mussten wir das wieder aufbauen, was wir zerstört hatten, und alle haben dabei mitgeholfen. Aber auch unsere Seelen brauchten Beistand. Denn habt ihr gesehen, in welchem Zustand sie sind?«
»Und unsere Körper? Hast du unsere Körper gesehen?«
Sie machten sich darüber lustig, wie mager sie waren. Sie wogen alle nicht viel, Brioude war fast durchsichtig und sehnig, Montbellet von der Sonne ausgedörrt, und Salagnon fahl von der Erschöpfung und hatte ein eingefallenes Gesicht.
»Kein Wunder, wenn man sieht, was du isst …«
»… dabei verliert man allerdings die Freude am Essen.«
»So ist es, meine Freunde. Das Essen ist schlecht, und daher esse ich nur so viel, wie eben nötig ist, um eine minimale Präsenz in dieser Welt sicherzustellen. Aber unsere Magerkeit ist eine gute Eigenschaft. Alle Leute aus unserer Umgebung schlagen sich den Bauch voll, um so schnell wie möglich wieder so viel zu wiegen wie vor dem Krieg. Die Magerkeit, die wir beibehalten,
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