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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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betrachtet, was sich außerhalb des Bettrahmens in der Welt abspielt. Man sitzt dort wie auf einem Schiff mitten auf dem Meer. Man hat einen Blick über die Dächer wie aus einem Ballon. Auf diesem Möbelstück erfüllt einen eine herrliche Ruhe. Der Mann, der sich um das Haus auf der Passhöhe kümmerte, forderte meinen Führer und mich auf, Platz zu nehmen. Auf einem Reisigfeuer erhitzte er Wasser in einem Blechkessel. Der Baum spendete Schatten und lieferte die Reiser. Der Mann schenkte uns Bergtee ein, ein dickflüssiges Getränk mit vielen Gewürzen und Trockenobst. Wir haben den Schatten des letzten Baums genossen, der in dieser Höhe wächst, und der von einem Mann gepflegt wird, der ganz allein in einem Steinverhau lebt. Wir haben die Täler betrachtet, die sich zwischen den Bergen öffnen und die in jenem Land tiefe Abgründe sind. Er hat mich gebeten, ihm zu erzählen, wo ich herkäme. Nicht einfach den Namen eines Landes zu nennen, sondern von dem Land zu erzählen. Ich habe an jenem Tag mehrere Tassen Tee getrunken und habe erzählt: von Europa, von den Städten, von den kleinen Landschaften, von der Feuchtigkeit, vom Krieg, der soeben zu Ende gegangen war. Als Gegenleistung hat er mir die Gedichte von al-Ghazali vorgetragen. Er skandierte sie wunderbar, der Wind, der über den Pass wehte, trug jedes Wort mit sich fort wie ein Drachen; er hielt die Worte mit dem vibrierenden Faden seiner Stimme fest, ehe er sie losließ. Mein Führer half mir die Worte zu übersetzen, bei denen ich nicht sicher war. Aber der einfache Rhythmus dieser Verse und das, was ich schon allein verstand, ließ all meine Knochen zittern, ich war eine Laute mit Saiten aus Knochenmark. Dieser alte Mann, der auf einem mit Seilen – oder waren es Saiten? – bespannten Bett saß, spielte mich; er ließ in mir meine eigene Musik erklingen, die ich nicht kannte.
    Als ich fortging, um meine Reise fortzusetzen, war ich ihm unendlich dankbar. Er grüßte mich mit einer leichten Handbewegung und schenkte sich Tee nach. Ich glaubte in der Bergluft zu schweben, und als wir in dem Garten ankamen, der die Talsohle bedeckt, als ich den Duft der Gräser und die Feuchtigkeit der Bäume spürte, hatte ich das Gefühl, eine vollkommene Welt zu betreten, einen Garten Eden, den ich am liebsten in Gedichten gepriesen hätte; aber dazu bin ich nicht fähig. Und daher muss ich dorthin zurückkehren. Diesen Horizont hat mir dieser Ring geöffnet; ich trenne mich nicht mehr von ihm.«
    »Ich beneide euch«, sagte Salagnon. »Ich bin lediglich arm; ohne Heroismus und besonderes Verlangen. Meine Magerkeit ist das Ergebnis von Kälte, Langeweile und unzureichender Ernährung. Meine Magerkeit ist eine Schwäche, auf die ich gern verzichten würde; ich würde mich vor allem gern davon befreien.«
    »Deine Magerkeit ist ein gutes Zeichen, Victorien.«
    »Du geistlicher Übertüncher!«, schrie Montbellet. »Er bringt den Eimer mit blauer Farbe mit und den Pinsel zum Auftragen von Gold! Er übertüncht dich, Victorien, er übertüncht dich!«
    »Die Zeichen sind hartnäckig, ihr Ungläubigen! Sie widerstehen selbst der Ironie!«
    »Du willst ihm weismachen, sein schlechtes Aussehen sei eine Segnung. Darin besteht das ganze Wunder dieser Religion: Reine Tünche, sage ich dir! Die Kirche reinigt die Fassade des Lebens, indem sie sie blau streicht.«
    »Die Zeichen sind umkehrbar, Montbellet.«
    »Darin liegt die Stärke der Religion.«
    »Das ist die Größe der Religion: Sie setzt die Zeichen in die richtige Richtung, damit die Welt wieder in Gang kommt, nachdem sie gestolpert ist. Und die richtige Richtung ist jene, die es erlaubt, größer zu werden.«
    Er füllte die Gläser, sie tranken.
    »Einverstanden, Brioude, so kann ich das auch sehen. Mach weiter.«
    »Deine Magerkeit ist nicht das Zeichen von Sklaverei, in die du geraten wärst. Sie ist das Zeichen für einen neuen Aufbruch, ohne das Gepäck von früher, das Zeichen dafür, dass du reinen Tisch gemacht hast. Du bist bereit, Victorien; du klammerst dich an nichts mehr. Du bist lebendig, du bist frei, dir fehlt nur ein bisschen Luft, damit man es hören kann. Du bist wie ein Saiteninstrument, wie Montbellets Laute, aber eingeschlossen in eine Vakuumglocke. Ohne Luft hört man den Klang nicht, die Saite vibriert umsonst, denn sie lässt nichts in Schwingung geraten. Dazu wäre ein Sprung in der Glocke nötig, damit Luft hineindringt, erst dann kann man dich hören. Irgendetwas umgibt dich, das du

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