Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
zerschlagen musst, um endlich frei atmen zu können, Victorien Salagnon. Vielleicht ist es die Eierschale. Der Sprung in der Schale, der dir Luft gibt, ist vielleicht die Kunst. Du hast doch gezeichnet. Also zeichne wieder.«
Montbellet stand auf, hob sein Glas, das unter der trüben Lampe dunkelrot glänzte, warm wie Blut im kühlen Halbdunkel.
»Die Kunst, das Abenteuer und die Spiritualität trinken auf ihre gemeinsame Magerkeit.«
Sie tranken, lachten und tranken wieder. Salagnon schob seufzend seinen Teller zurück, auf dem die letzten Nudeln in der erkalteten Soße klebten.
»Trotzdem ist es schade, dass sich die Spiritualität mit so schlechter Küche begnügen muss.«
»Aber sie hat ausgezeichneten Wein.«
Brioudes Augen funkelten.
Victorien nahm sich vor zu zeichnen. Das heißt, er holte ein Tuschefass und setzte sich vor ein Blatt Papier. Aber es kam nichts. Das Weiß blieb weiß, das Schwarz der Tusche blieb im Fass, und nichts nahm Form an. Was hätte er schon zeichnen sollen, während er über sein weißes Blatt gebeugt saß? Eine Zeichnung ist die Spur von etwas, das im Inneren lebt und nach außen dringt; aber in ihm war nichts, bis auf Euridice. Doch Euridice war in weiter Ferne, in jener Welt auf der anderen Seite, die auf dem Kopf steht, jenseits des todbringenden Mittelmeers, in der Hölle der sengenden Sonne, der sich verflüchtigenden Worte, der schnell verscharrten Leichen; sie war weit weg, jenseits des zu breiten Stroms, der Frankreich in zwei Teile teilte. Und auch draußen war nichts, was er zu Papier hätte bringen können; da schwebte nur grüner Nebel zwischen den Häusern, die bereit waren, sich in ihrer eigenen Feuchtigkeit aufzulösen. Er hätte am liebsten geweint, aber auch das konnte er nicht. Das Blatt war weiß, ohne jede Spur.
Er blieb stundenlang so sitzen, regungslos auf die Ellbogen gestützt. In dem dunklen Zimmer ging nur von dem unberührten Blatt Papier etwas Licht aus, ein schwacher Schein, der nicht verlöschte. Das dauerte die ganze Nacht. Der folgende Tag kündete sich mit einem unangenehm metallfarbenen Morgengrauen an, in dem alle Formen ohne Tiefenwirkung auftauchten, in dem Schatten und Lichter zu gleichen Teilen in einem einheitlichen Schimmern verschmolzen. Das ließ keinerlei Relief entstehen, nichts hob sich voneinander ab, was ihm erlaubt hätte, seine Umgebung wahrzunehmen. Ohne eine Spur auf dem Papier hinterlassen zu haben, ohne traurig zu sein oder etwas zu bedauern, legte er sich ins Bett und schlief sofort ein.
Als er erwachte, unternahm er die nötigen Schritte, um nach Indochina entsandt zu werden.
KOMMENTAR V
Die fragile Ordnung des Schnees
H ör dir nur diesen Quatsch an!«, schrie Mariani vor dem Fernseher. »Hast du das gehört? Sag mal, hast du das gehört? Aber sie sagen, dass der Typ, der gesiegt hat, Ire ist!«
»Der wobei gesiegt hat?«
»Aber beim Fünftausendmeterlauf, vor dem du seit zehn Minuten sitzt! Du träumst, Salagnon.«
»Na und? Ist er kein Ire?«
»Aber er ist schwarz!«
»Du beginnst jeden Satz mit ›aber‹, Mariani.«
»Ja, weil es ein ›Aber‹ gibt, ein großes ›Aber‹. Das ›Aber‹ ist ein Bindewort, das einen Vorbehalt, ein Paradox oder einen Widerspruch ausdrückt. Und ich widerspreche, widersetze mich. Er ist Ire, aber schwarz. Ich drücke einen Vorbehalt aus; ich hebe das Paradox hervor, ich prangere die Absurdität an; aber auch die Dummheit, die Absurdität nicht zu sehen.«
»Wenn er für Irland läuft, dann ist er garantiert nach dem Gesetz Ire.«
»Das Gesetz ist mir scheißegal! Aber wirklich total egal, ich habe gesehen, wie es tausend Mal gebrochen und je nach Bedarf wieder zurechtgebogen worden ist. Das ist mir scheißegal, und das war es schon immer. Ich rede über die Realität. Und in der Realität gibt es nicht mehr schwarze Iren als quadratische Kreise. Hast du schon mal einen schwarzen Iren gesehen?«
»Ja. Im Fernsehen. Er hat sogar gerade den Fünftausendmeterlauf gewonnen.«
»Salagnon, du bringst mich zur Verzweiflung. Du hast Scheuklappen. Du klammerst dich an den schönen Schein. Du bist nur ein Maler.«
Ich fragte mich, was ich dort tat. Ich saß oben fast in den Wolken im achtzehnten Stock des Hochhauses in Voracieux-les-Bredins, in dem Mariani wohnte. Mit dem Rücken zum Fenster sahen wir fern. Irgendwo in weiter Ferne fand eine Europameisterschaft statt. Die Typen auf dem Bildschirm rannten, sprangen, warfen irgendwas, und die Stimmen von Journalisten versuchten mit
Weitere Kostenlose Bücher