Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
einem befindet.«
Er legte ihr den Arm um die Schultern, beugte sich zu ihr herab und küsste sie. Er hatte gerade das gesagt, was ich dachte. Ich lächelte ihnen zu, jetzt war mir alles klar, ich konnte meine Hand zurückziehen, und mein Blick zitterte nicht mehr.
Victorien Salagnon brachte mir das Malen bei. Er gab mir einen chinesischen Wolfshaarpinsel mit lebhafter Strichführung, der bei der Berührung mit dem Papier in die Höhe schießt und nichts von seiner Kraft verliert. »Solche Pinsel finden Sie nicht in Geschäften, höchstens Ziegenhaarpinsel, die für Kalligrafie etwas taugen, für flaches Auftragen, sich aber nicht für Striche eignen.«
Er lehrte mich, dass man den Pinsel so zwischen den Fingern hält, als nähme man ein Ei in die Hand, eine derart unstabile Haltung, dass der Pinsel beim Atemholen zur Seite gleitet. »Sie brauchen also nur Ihren Atem unter Kontrolle zu halten.« Er lehrte mich verschiedene Tuschearten zu beurteilen, ihre Schwarztöne zu unterscheiden, ihren Glanz und ihre Tiefe einzuschätzen, ehe man sie benutzt. Er lehrte mich die Qualität von weißem Papier, dessen unversehrte Fläche ebenso kostbar ist wie seine Helligkeit. Er lehrte mich, dass die Leere der Fülle vorzuziehen ist, denn die Fülle ist unbeweglich, und dass die Fülle etwas ins Leben ruft und man sich entschließen muss, die Leere zu überwinden.
Aber er malte nicht in meinem Beisein, er begnügte sich damit, mir Ratschläge zu erteilen und mir bei meinen Versuchen zuzusehen. Er begnügte sich damit, mir den Gebrauch des Handwerkszeugs beizubringen. Der anschließende Umgang damit sei meine Angelegenheit. Und was ich malen wolle, sei ebenfalls meine Angelegenheit. Und wenn ich es wünsche, könne ich ihm zeigen, was ich gemalt hätte. Sonst begnügte er sich damit, zu sehen, wie ich den Pinsel beim Aufsetzen hielt, oder wie ich die Linienführung eines Strichs bewerkstelligte. Das genügte ihm, um mich auf dem Weg zur Malerei anzuleiten.
Ich besuchte ihn oft. Ich lernte, indem er mir bei meinen Malübungen zuschaute. Er selbst malte nicht mehr. Er erzählte mir, dass er in seiner Freizeit begonnen habe, seine Memoiren zu schreiben.
Wir hatten uns gesucht und gefunden. Ausgediente Berufssoldaten haben oft eine Vorliebe für Literatur. Sie wollen auf allen Gebieten kompetent sein, haben ein bewegtes Leben hinter sich und glauben, sie seien begnadete Erzähler. Andererseits haben Literaturliebhaber oft eine Vorliebe für Strategie, Taktik und die Kunst der Belagerung, alles Disziplinen, die sich in der Realität häufig auf katastrophische, bedauerliche Weise abspielen, wenn auch sehr viel komplexer als in Büchern, das muss man wohl zugeben.
Er sprach mehrmals wie nebenbei von seinen Memoiren, doch eines Tages hielt er es nicht mehr aus und holte das blaue Schulheft mit großkarierten Seiten, in dem er in Schönschrift zu schreiben begonnen hatte. Er schöpfte tief Atem und las mir vor. Der Text begann mit folgenden Worten: »Ich bin 1926 in Lyon als einziger Sohn einer Familie von kleinen Kaufleuten geboren.«
Er hielt inne, ließ das Heft sinken und blickte mich an.
»Spüren Sie die Langeweile? Schon beim ersten Satz überkommt sie mich! Ich lese ihn und warte ungeduldig darauf, dass er zu Ende ist; und dann halte ich inne und kann nicht mehr weiterlesen. Es kommen noch mehrere Seiten, aber ich höre hier lieber auf.«
»Streichen Sie den ersten Satz. Beginnen Sie mit dem zweiten oder noch später.«
»Aber das ist der Anfang. Ich muss doch mit dem Anfang beginnen, sonst findet man sich nicht zurecht. Es handelt sich schließlich um Memoiren und nicht um einen Roman.«
»Woran erinnern Sie sich denn wirklich, zu Beginn?«
»Nebel, feuchte Kälte, und meinen Horror vor Schweiß.«
»Dann beginnen Sie doch damit.«
»Erst mal muss ich doch auf die Welt kommen.«
»Die Erinnerung kennt keinen Beginn.«
»Sind Sie sicher?«
»Ganz sicher; die Erinnerung kommt auf rätselhaften Wegen zustande, mit einem Schlag, sie hat nur in der Biografie verstorbener Menschen einen Beginn. Und Sie haben ja nicht die Absicht zu sterben.«
»Ich möchte nur Klarheit schaffen. Meine Geburt stellt einen guten Beginn dar.«
»Sie haben ihr nicht zugesehen, daher ist sie unwichtig. Es gibt eine ganze Menge von Anfängen im Gedächtnis. Nehmen Sie den, der Ihnen gefällt. Sie können auf die Welt kommen, wann Sie wollen. In einem Buch kann man in jedem Alter auf die Welt kommen.«
Ratlos schlug er sein Heft wieder
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