Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
auf. Stumm überflog er die erste Seite, dann die folgenden. Das Papier vergilbte bereits. Er hatte die Ereignisse, die Begleitumstände und die Einzelheiten dessen niedergeschrieben, was er erlebt hatte und was seiner Meinung nach nicht in Vergessenheit geraten sollte. Alles war gut geordnet. Aber daraus war nicht zu erkennen, was er eigentlich sagen wollte. Er klappte das Heft zu und reichte es mir.
»Das ist etwas, von dem ich nichts verstehe. Fangen Sie an.«
Es passte mir gar nicht, dass er meinen Rat so wörtlich nahm. Aber ich bin der Erzähler: Ich muss eben erzählen. Auch wenn es nicht das ist, was ich möchte, wenn es nicht meinem Wunsch entspricht, denn ich möchte viel lieber etwas zeigen. Deshalb bin ich bei Victorien Salagnon, damit er mir beibringt, wie man einen Pinsel hält, und zwar besser als ich einen Füller halten kann, um endlich etwas zeigen zu können. Aber vielleicht ist meine Hand ja nur für einen Füller geeignet. Außerdem muss ich ihn auf die eine oder andere Weise für die Mühe entlohnen, die er sich mit mir gibt. Geld würde die Sache vereinfachen, aber ich habe keins, und er will keins. Folglich habe ich sein Heft genommen und mache mich daran, es zu lesen.
Ich las alles. Er hatte recht, es war langweilig; es war nicht besser als die in einem Selbstverlag publizierten Kriegserinnerungen. Wenn man solche Bücher in großen Lettern und mit unzähligen Absätzen liest, wird einem klar, dass in einem auf diese Weise erzählten Leben nicht viel geschehen ist. Dabei enthält ein einziger erlebter Augenblick mehr als sich in einer ganzen Kiste voller Bücher beschreiben lässt. Die Ereignisse beinhalten etwas, das seine Erzählung nicht zum Ausdruck bringt. Sie werfen endlose Fragen auf, für die Erzählen keine Antwort ist.
Ich weiß nicht, welche Kompetenz er mir zuschreibt. Ich weiß nicht, woran er geglaubt hat, als er mich mit seinen zu hellen Augen betrachtet hat, mit Augen, in denen ich keinerlei Emotion entdecken kann, sondern nur etwas Durchsichtiges, das mich an Nähe glauben lässt. Aber ich bin der Erzähler und daher erzähle ich.
ROMAN I
Das Leben der Ratten
V on Anfang an hatte Victorien Salagnon Vertrauen in seine Schultern. Seine Muskeln, sein Atem und seine Fäuste waren von Geburt an sehr kräftig, und in seinen blassen Augen glitzerte ein eisiger Glanz. Und daher ordnete er alle Probleme der Welt in zwei Kategorien ein: Jene, die er mit einem Schlag lösen konnte – und in diesem Fall verlor er keine Sekunde –, und jene, angesichts derer er machtlos war. Für diese hatte er nur Verachtung übrig, er ging daran vorbei und tat, als sähe er sie nicht; oder er floh.
Victorien Salagnon besaß alles, was zum Erfolg erforderlich ist: physische Intelligenz, moralische Unkompliziertheit und die Kunst der Entscheidungsfähigkeit. Er war sich seiner guten Eigenschaften bewusst, und dieses Bewusstsein ist der größte Schatz, den man mit siebzehn Jahren besitzen kann. Aber während des Winters 1943 waren natürliche Reichtümer zu nichts nutze. Von Frankreich aus gesehen erschien in jenem Jahr die ganze Welt erbärmlich; von Grund auf.
Die damalige Zeit war nichts für empfindsame Menschen und auch nicht der geeignete Moment für Kinderspiele, dabei wäre viel Kraft erforderlich gewesen. Aber die jungen Kräfte Frankreichs, die jungen Muskeln, die jungen Hirne, die hitzigen Kampfhähne fanden nur Beschäftigung als Reinigungskräfte, Zwangsarbeiter im Ausland, Strohmänner zugunsten der Sieger, die sie nicht waren, regionale Sportler, mehr aber auch nicht, oder als lange Schlakse in Shorts, die bei Aufmärschen Schaufeln wie Waffen präsentierten. Dabei wusste jeder, dass die ganze übrige Welt über richtige Waffen verfügte. Überall auf der Welt wurde gekämpft, und Victorien Salagnon ging zur Schule.
Als er am Rand der Terrasse anlangte, beugte er sich über die Brüstung und sah unterhalb der Großen Lehranstalt die Stadt Lyon in der Luft schweben. Von dort aus sah er das, was der Nebel sehen ließ: die Dächer der Stadt, die Leere der Saône und sonst nichts. Die Dächer schwebten in der Luft; und nicht zwei von ihnen waren gleich, weder was die Größe noch die Höhe, noch die Ausrichtung anging. Sie hatten die Farbe von verwittertem Holz, berührten einander leicht und waren kunterbunt in einer Schleife der Saône gestrandet, wo sie wegen zu schwacher Strömung liegen geblieben waren. Von oben gesehen wirkte die Stadt Lyon wie ein großes Durcheinander, man
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