Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
Vom Netzwerk:
hat sie auf andere Art erzählt. Falls Kriege das Ziel verfolgen, eine Identität zu begründen, dann haben wir das Wesentliche verpasst. Die Kriege, die wir geführt haben, haben unsere Freude am Beisammensein zerstört, und wenn wir heutzutage von ihnen erzählen, beschleunigen sie nur noch unsere Zersetzung. Wir haben nichts begriffen. Es hat nichts gegeben, auf das wir stolz sein könnten; das fehlt uns. Und nichts zu sagen, ermöglicht einem auch nicht zu leben.«
    »Was hättest du getan?«, fragte mich Mariani noch einmal. »Hättest du dich verdrückt, um dich nicht einmischen zu müssen? Wärst du abgehauen? Hättest du behauptet, du seist krank, um dir nicht die Hände schmutzig machen zu müssen? Hättest du dich versteckt? Aber wo? Unter deinem Bett? Wie kann derjenige, der sich versteckt, bloß recht haben? Wer nicht da gewesen ist, der existiert nicht!«
    Trotz seines provozierenden Tons hatte Mariani nicht unrecht. Unser einziger Ruhm bestand darin, dass wir sozusagen die Schule geschwänzt hatten. Die Teilnahme an einer Sache lief darauf hinaus, sie auf irgendeine Weise zu unterstützen; das Leben selbst war eine Form von Unterstützung; und daher hatten wir uns bemüht, auf Sparflamme zu leben, nicht wirklich da zu sein, als hätten wir einen Entschuldigungszettel.
    Ich weiß nicht, wo wir in jenen Momenten hätten sein müssen, in denen wir nicht da waren. Im Kino kann man versuchen zu begreifen, was man hätte tun müssen. Das Kino ist ein Fenster, das uns von einem Sessel aus einen Ausblick auf das Erwachsenenalter erlaubt. Man lernt dort, wie man ein Auto zu fahren hat, wenn man verfolgt wird, wie man eine Waffe schwingt, wie man eine traumhaft schöne Frau küsst, ohne sich dabei ungeschickt anzustellen; alles Dinge, die man nie tun wird, die uns aber wichtig sind. Deshalb lieben wir Spielfilme: Sie bieten Lösungen für Situationen an, die im Leben unentwirrbar sind; aber die guten von den schlechten Lösungen zu unterscheiden, das ermöglicht uns zu leben. Das Kino gibt uns die Gelegenheit, mehrere Leben zu leben. Man sieht durch das Fenster und außer Reichweite, was man ablehnen sollte und was uns als Beispiel dienen kann. Spielfilme legen uns nahe, was wir zu tun haben, und die Filme, die jeder gesehen hat, bieten uns allgemeingültige Lösungen an. Wenn man sich im Kino hinsetzt und verstummt, sieht man gemeinsam mit anderen, wie es einmal war und wie es hätte sein können; gemeinsam. In den großen französischen Filmen sehen wir, wie man die Tatsache, nicht da gewesen zu sein, überleben kann. Keine der angebotenen Lösungen ist natürlich überzeugend, denn für die Abwesenheit gibt es keine Lösung; jede einzelne dieser Lösungen ist skandalös, aber alle sind in die Tat umgesetzt worden, alle bringen sie ein Alibi vor, an das man glauben kann; das sind unsere Entschuldigungszettel.
    Schon lange bevor ich den Film sah, hatte ich von der Nacht mit dem Teufel gehört. Der Film ist Teil des französischen Kulturerbes, man schreibt ihm hohe ästhetische Eigenschaften, moralische Werte und eine historische Bedeutsamkeit zu. Er ist 1942 gedreht worden. Das Drehbuch erzählt ein mittelalterliches Märchen. Ich habe mich, als ich mich in den Saal setzte, aus dem Reflex eines Kinoliebhabers heraus gefragt, was für eine Verbindung es wohl zwischen dem Jahr 1942 und einem mittelalterlichen Märchen geben könne. Man hat eben akademische Reflexe und stellt sich vor, es müsse eine Verbindung zwischen einem Film und der Zeit geben, in der er gedreht wurde. Doch diesmal besteht kein Risiko, sagte ich mir, während ich es mir in meinem Sessel bequem machte. Dieser Film stellte die schwarzen Seiten aus dem Jahr 1942 dar. Der Teufel tritt auf, er trachtet einem Liebespaar nach dem Leben, will bestimmt auch ihre Seele, will sie vernichten. Doch sie verwandeln sich vor dem wütenden Teufel in Statuen aus Stein, und daher kann er ihnen die Seele nicht mehr entreißen. Ihre Körper rühren sich nicht mehr, doch ihre Herzen schlagen weiter, sie warten, dass es vorbeigeht. Tja, sagte ich mir unwillkürlich, als ich mir endlich den Film Die Nacht mit dem Teufel ansah, das ist mal wieder eine typisch französische Lösung für das Problem des Bösen: nichts tun, auch wenn man sich sein Teil dabei denkt, den toten Mann markieren, und schon kann das Böse nichts mehr ausrichten. Und wir auch nicht.
    Es empfiehlt sich, nichts Genaueres über die heiklen Momente unserer Geschichte zu sagen; wir waren nicht da.

Weitere Kostenlose Bücher