Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
hatte etwas erlitten; jede war völlig unschuldig in diese Situation geraten, und die anderen waren über sie hergefallen.
Es gibt zu viel Gewalt, zu viele Opfer, zu viele Henker, das Ganze ist ziemlich wirr, die offizielle Geschichte ist unhaltbar; die Nation liegt in Trümmern. Wenn die Nation Wille und Stolz darstellt, ist die unsere an der Demütigung zerbrochen. Wenn die Nation aus gemeinsamen Erinnerungen besteht, zersetzt sich die unsere in lückenhafte. Wenn die Nation auf dem Willen des Zusammenlebens basiert, zerfällt die unsere in dem Maße, wie neue Viertel und neue Siedlungen entstehen und Untergruppen sich vervielfachen, die sich nicht mit den anderen vermischen. Wir verenden auf kleiner Flamme an der Weigerung, zusammenleben zu wollen.
»Nach diesen Kriegen sind alle unschuldig, sind alle Opfer, wie Porquigny zum Beispiel«, erzählte Salagnon. »Ich war ein einziges Mal wieder in Porquigny. Man erinnert sich dort an das Blutbad, man erinnert sich sogar nur daran. Man gelangt mit dem Bus dorthin, und Tafeln zeigen die Orte an, die man besichtigen kann. Ein kleines Museum ist eingerichtet worden, man besucht es, dort findet man deutsche Waffen, die Shorts der Chantiers de Jeunesse , Granatsplitter und sogar ein Modell des Panzerzugs, der in Höllenzug umgetauft worden ist. Man kann das unversehrte, blutbefleckte Sommerkleid der jungen Frau betrachten, die ich tot vor mir liegen sah. Im Dorf haben sie eine Hauswand voller Einschusslöcher mit einer Scheibe geschützt, damit sie nicht verwittert. Wenn man das Blut und die Fliegen hätte erhalten können, hätte man sie erhalten. Die Dorfstraßen heißen heute Rue des Martyrs, Rue des Innocents-Assassinés. Vor dem Rathaus ist eine Kalksteintafel angebracht, in die in zwanzig Zentimeter großen Lettern die Namen aller Toten eingraviert sind. In der letzten Zeile steht in Blattgoldlettern: Du, der du hier vorübergehst, erinnere dich! Als bestände in diesem Dorf das Risiko des Vergessens; als würde man vergessen, die Hausaufgabe über das Thema Erinnerung zu machen. Wir haben in Frankreich immer unsere Hausaufgaben gemacht.
Neben der Tafel hat man eine Bronzestatue errichtet, sie stellt eckige Unschuldige dar, die offensichtlich Opfer sind, ohne dass ein Henker zu sehen ist. Sie sind verstört, begreifen nicht, was mit ihnen geschieht. Damit niemand es vergisst, heißt der Platz vor den Rathaus Place du 20-août-1944 . Mit anderen Worten Platz des Tages, an dem das Blutbad stattfand oder Platz unseres Todestages . Dabei haben in Porquigny auch andere Ereignisse stattgefunden! Warum soll man diesen Platz nicht anders nennen, warum hat man für alle Ewigkeit das Unglück und den Tod gewählt? Warum hat man ihn nicht Platz der Freiheit genannt, Platz der wiedergefundenen Würde , Platz der rechtzeitig eingetroffenen motorisierten Zuaven , Platz der 120 deutschen Soldaten, die wir getötet haben oder Platz des letztlich zerstörten Panzerzugs ?
In Sencey dagegen ist keine Spur aufzufinden. Dort gibt es einen Rathausplatz, eine Straße der Republik und ein Kriegerdenkmal für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. An einer freien Stelle darunter ist eine Tafel angeschraubt worden, auf der die sieben Toten aus dem Jahr 1944 aufgezählt sind. Doch sie fielen mit der Waffe in der Hand, wohingegen die Toten aus Porquigny gefesselt und geopfert, nebeneinander vor einer Wand aufgereiht und ermordet wurden. Man zieht es vor, sich der unschuldigen Opfer zu erinnern und somit den Krieg wie ein Unwetter anzusehen: Frankreich wurde vergewaltigt, es kann nichts dafür. Es hat nichts verstanden, versteht auch heute noch nichts; wir haben also ein Anrecht auf Gewalt. Frankreich jammert und droht, und wenn es sich erhebt, dann nur, um seinen Hund zu schlagen. Macht eure Hausaufgabe über das Thema Erinnerungen, dann habt ihr ein Anrecht auf legitime Gewalt.«
»Salagnon«, sagte Mariani seufzend, »du redest zu viel, du willst der Sache auf den Grund gehen, du gräbst und gräbst, aber wohin führt dich das? Du solltest auf unserer Seite stehen.«
»Euridice kommt gleich zurück.«
»Haben Sie Angst vor ihr?«, fragte ich belustigt. »Ach wie schön doch die leichten Luftlandetruppen sind!«
»Wenn sich das Problem mit Fausthieben regeln ließe, würde ich keine Sekunde zögern, aber Euridice kann sich nicht dazu durchringen. Wenn sie mich sieht, wendet sie den Kopf ab; wenn ich in ihrem Haus bin, läuft sie mit zusammengebissenen Zähnen durch die Räume,
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