Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Grenze zwischen Bürgern und Untertanen. Nichts kann in einer Republik eine Rechtfertigung dafür liefern, dass auf demselben Boden Bürger und Untertanen leben. Dafür sorgt die Religion, als gebe es einen angeborenen Charakter, der untrennbar mit der Natur einer Kategorie von Menschen verbunden ist, die diese für immer von der Möglichkeit einer demokratischen Staatsbürgerschaft ausschließt.
Für die FLN besitzt der Islam einen fast physischen, vererbbaren Charakter, der es erlaubt, den kolonialen Untertan und Frankreich unvereinbar werden zu lassen, und der als einzig mögliche Zukunftsperspektive auf die vollständige Unabhängigkeit einer neuen islamischen Nation abzielt, die nur Arabisch spricht.
Wovor hat man Angst? Vor der Macht des anderen, vor dem Verlust der Kontrolle, vor den Auswirkungen der Geburtenrate. Man setzt den Machthebel an dem kleinen Wort »sie« an, an das man sich klammert. Der Islam zwingt das ganze Gebiet unter eine Gemeinsamkeit. Menschen, die das eigentlich nicht interessiert, sind gezwungen, an nichts anderes zu denken; all die, die nicht damit einverstanden sind, werden eliminiert. Jeder wird gebeten, seinen Platz auf der einen oder anderen Seite der Grenze, auf der auf dem Papier gezogenen Grenze einzunehmen, die man inzwischen für natürlich hält. Es würde genügen, den kleinen Stein wegzuziehen, auf den sich der Hebel stützt, das »sie« wegzunehmen und nur noch ein »wir« von größerem Ausmaß zu benutzen. So lange es um »sie« und »wir« geht, ist ihr Wunsch berechtigt, uns verschwinden zu sehen. Denn wenn wir bleiben, treten wir die Prinzipien, die wir selbst erfunden haben und auf die wir uns gründen, mit Füßen. In uns sind die Spannungen am stärksten, uns zerstören die Widersprüche, sie zerreißen uns innerlich, und wir werden weggehen, ehe der Schmerz, den wir ihnen aufzwingen, sie aufgeben lässt. Wir werden weggehen, denn wir verwenden weiterhin das Wort »sie«.
Wie lange soll das noch dauern?
Euridice war freudestrahlend in eine winzige Wohnung gezogen, ein Zimmer im sechsten Stock mit einem Balkon, der zur Straße hinausging. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf die schwarze Eisenbalustrade und betrachtete glücklich lächelnd das Treiben aus der Höhe, aus großer Höhe. Victorien war auf dem Weg zu ihr, er rannte die sechs Stockwerke hinauf und drückte sie an sich. Ihre heftig klopfenden Herzen passten sich einander an, er war außer Atem, und das brachte ihn zum Lachen, einem Lachen, das von tiefen Atemzügen unterbrochen wurde, obwohl er es gewohnt war zu rennen und durchs Gebirge zu laufen, kräftige Beine und eine ungemeine Widerstandskraft besaß. Als er wieder so weit zu Atem gekommen war, dass sich sein Mund anderen Aufgaben widmen konnte, küssten sie sich lange. Sie arbeitete als Krankenschwester in Hussein-Dey, manchmal tagsüber, manchmal nachts, dann kehrte sie morgens heim und schlief im Lärm der belebten Straße ein, der an den Fassaden hinaufstieg, über den Balkon strich, durch die halb geschlossenen Läden drang und sie in ihrem Bett in den Schlaf wiegte. Ohne sie zu wecken, schmiegte sich Victorien an sie; sie öffnete die Augen in seinen Armen.
Sie verbrachte lange Stunden einer aus der Bahn geratenen Zeit damit, nach draußen zu blicken und die Decke über ihrem Bett zu betrachten, diese leere Zeit empfand sie als ungeheures Glück. Sie las Victoriens Briefe, musterte die Zeichnungen, die er ihr schickte, suchte in den Pinselstrichen, den Farbkontrasten und allen Tuscheeffekten sämtliche Spuren all seiner Gesten, wie klein auch immer sie waren. Inzwischen antwortete sie ihm. Er kam in unregelmäßigen Abständen, wenn seine Truppe nach Algier zurückkehrte, um sich auszuruhen, ihre Wunden verheilen zu lassen und ihren Vorrat aufzufüllen – ein paar Tage in die Stadt, wie ein Schiff auf dem Trockendock, in denen sie auf andere Gedanken kommen konnten, ehe sie wieder aufbrachen. Sie kamen nie vollzählig wieder. Er rannte die sechs Stockwerke hinauf, manchmal rasiert und in sauberer, gebügelter Ausgehuniform, und manchmal noch schweißüberströmt und staubbedeckt, nachdem er seinen Jeep irgendwo auf dem Bürgersteig hatte stehen lassen, wo er alle behinderte, aber dank seiner Erscheinung und seiner verschlissenen Uniform konnte Salagnon in Algier tun, was er wollte. Sogar die Leute, die vom Bürgersteig hinuntergehen mussten, um um seinen Jeep herumzugehen, grüßten ihn. Dann duschte er und glitt mit einer Erektion zu
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