Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
anzublicken. Sie da unten, und wir auf unseren großen Lastwagen, unsere Augen befinden sich nicht in gleicher Höhe, jeder betrachtet etwas anderes, aber der Kontakt ist da. Wir ignorieren sie umso mehr, umso entschlossener, weil es sich um sie handelt; und sie lehnen uns umso mehr, umso entschlossener ab, weil es sich um uns handelt. Ich kenne keinen Einzigen von ihnen, dabei bin ich schon eine ganze Weile hier, dachte Salagnon. Ich habe mit keinen Einzigen gesprochen, ohne die Antwort zu erwarten, die ich hören wollte, und nicht einer hat das Wort an mich gerichtet, ohne zu zittern bei dem Gedanken, was ich tun würde. Ich habe nie mit einem von ihnen gesprochen, und das ist keine Frage der Sprache. Ich habe die französische Sprache benutzt, um sie zum Schweigen zu bringen. Ich stelle ihnen Fragen; sie geben ihre Antworten unter Druck. Die Worte zwischen uns waren wie Stacheldraht, und noch jahrzehntelang werden wir die gleichen Worte verwenden wie damals und beim Kontakt mit ihnen einen elektrischen Schlag bekommen. Wenn man diese Worte ausspricht, erstarrt die Kinnlade in einem galvanischen Krampf, man kann dann nicht mehr weitersprechen.
Aber er sah ihre Gesichter, wenn sie seinen im Schritttempo fahrenden Lastwagen streiften; und er konnte ihre Gedanken lesen, denn er hatte so viele Gesichter gemalt. Sie lehnen uns ab, dachte er, das sehe ich, sie warten darauf, dass wir weggehen. Sie sind stolz darauf, uns gemeinsam entschlossen abzulehnen. Wir werden eines Tages weggehen, weil sie alles gemeinsam und voller Stolz ertragen. Wir tun so, als würden wir nichts von dem begreifen, was hier vor sich geht. Wenn wir zugeben würden, dass es sich bei ihnen um unseresgleichen handelt, würden wir sie sofort verstehen. Wir teilen dieselben Wünsche, selbst die Werte der FLN sind französische Werte und werden in dieser Sprache ausgedrückt. Die Dienstaufträge, die Abrechnungen, die Berichte, all die blutverschmierten Papiere, die in den Taschen der toten Offiziere der FLN gefunden wurden, waren auf Französisch geschrieben. Das in der Sonne glänzende Mittelmeer ist ein Spiegel. Wir sind diesseits und jenseits nur zitternde Widerspiegelungen der einen und der anderen, und die Trennung ist furchtbar schmerzhaft und blutig; wie eng verbundene Brüder töten wir uns gegenseitig bei der geringsten Uneinigkeit. Extreme Gewalt ist eine Reflexhandlung vor den leicht verzerrenden Spiegeln.
Der Lastwagen an der Spitze hielt an, die Menge auf der Straße unterhalb des arabischen Viertels war so kompakt, dass er nicht weiterfahren konnte. Der Fahrer ließ den Motor aufheulen, betätigte die kräftige, tiefe Hupe, bis die Menschen langsam zur Seite traten, ganz langsam, denn sie bewegten sich Schulter an Schulter. Sie sind so zahlreich, dass sie uns verschlingen werden, dachte Salagnon, acht gegen einen, und so viele Kinder. Die französische Regierung will ihnen kein Stimmrecht geben, weil sonst hundert Abgeordnete aus Algerien in die Nationalversammlung entsandt würden. Die Europäer aus diesem Land wollen keine Gleichheit, sonst würden sie verschlungen. Acht gegen einen, und so viele Kinder.
Wir sind stark. Wenn man uns einen Punkt gibt, auf den wir uns stützen können, sind wir imstande, die Welt aus den Angeln zu heben. Dieser feste Punkt ist das kleine Wort »sie«. Mit »sie« können wir unsere Kraft und Gewalt zur Geltung bringen. Jeder stützt sich in diesem spiegelbildlichen Krieg, in diesem Gemetzel in einer Spiegelgalerie auf den anderen. Das »wir« wird durch das »sie« bestimmt; ohne sie existieren wir nicht. Und sie konstituieren sich aufgrund unserer Existenz; ohne uns gäbe es sie nicht. Jeder hat großes Interesse daran, dass wir nichts miteinander gemein haben. Sie sind anders. Wodurch unterscheiden sie sich? Durch die Sprache und durch die Religion. Die Sprache? Der Großteil der Menschheit spricht wenigstens zwei. Die Religion? Ist sie so wichtig? Für sie, ja, sagen wir. Der andere ist immer irrational; wenn es einen Fanatiker gibt, dann ist es der andere.
Der Islam trennt uns voneinander. Aber wer glaubt daran? Wer glaubt an die Religion? Sie erinnert an Grenzen im Dschungel, die eines Tages auf einer Karte eingezeichnet worden sind und die man in gegenseitigem Einvernehmen nicht anrührt, sodass man schließlich irgendwann glaubt, sie seien natürlich. Für Frankreich erlaubt der Islam, eine Grenze zu ziehen wie zwischen zwei unterschiedlichen Arten, nämlich eine als natürlich angesehene
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