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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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Arme zu nehmen oder sie zu malen, beruhigte mich. Als würde ich in ihrer Anwesenheit wegen zu starker Intensität, wegen zu starker Vitalität ersticken, als würde meine Flamme in ihrer Anwesenheit an Luftmangel ersticken; erst wenn ich sie in meiner Vorstellung an mich drückte, wenn ich begann, sie in meiner Vorstellung zu malen, bekam ich Luft; dann konnte ich endlich wieder atmen; dann brannte ich stärker. Man mag es seltsam finden, dass sich die Tusche mit dem Begehren vermischt; aber ist Malerei nicht das, nur das? Diese Mischung aus Begehren, aus Materie und aus Vorstellungen im Körper dessen, der sie gemalt hat, und im Körper dessen, der sie sieht.
    Mit Tusche zu malen verschafft einem ein eigentümliches Gefühl. Verdünnte Tusche ist äußerst flüssig, die kleinste Bewegung beeinflusst sie, ein Hauch kann sie stören; wie der Atem von jemandem, der etwas trinkt, die Oberfläche seiner Schale kräuselt. Ich habe dazugelernt. Ich benutze Wutanfälle, die ich verbal nicht auszudrücken vermochte, und die mein Leben in eine Folge von Unfällen verwandelten. Ich male ungeschickt, aber kraftvoll. Was ich male, hat keine Ähnlichkeit mit dem dargestellten Motiv. Mit meinen dürftigen Mitteln, mit der mithilfe eines Pinsels ausgebreiteten schwarzen Flüssigkeit hätten meine Gemälde große Mühe, das nachzuahmen, was ich sehe. Aber Tuschemalerei stellt nichts dar, sie ist. In jedem Strich nimmt man den Schatten des Gemalten wahr sowie die Spur des wütenden Pinsels, der ihn gemalt hat. Auch im Wort verschmilzt das Gesagte mit der Vibration der Luft, die man hervorbringt. Was man hört, hat nichts, wirklich gar nichts mit dem gemein, was man sagen will, dennoch offenbart sich das Gesagte sofort. Ein solches Wunder lässt sich nicht erklären, man verbringt die ersten Jahre seines Lebens damit, es zu erlernen, und das Wunder ereignet sich immer wieder. Wie die Sprache ist Tuschemalerei eine Inkarnation des Wortes, sie offenbart sich während des Aussprechens, im zitternden Rhythmus, den die bildlichen Vorstellungen haben, wenn sie zum Vorschein kommen. Die Tuschemalerei erscheint im Lichtkegel des Bewusstseins und zeigt etwas in Übereinstimmung mit dem ununterbrochenen Schlagen unserer Herzen.
    Die Chinesen, die für alles eine Erklärung haben, kennen bestimmt einen Schöpfungsmythos für die Malerei; ganz bestimmt, aber ich habe nicht die Absicht, ihn zu recherchieren. Darin dürfte von einem Meister der Kalligrafie die Rede sein, der eines Morgens ins Gebirge geht; ihm folgt vermutlich sein Diener, der alles trägt, blöde Fragen stellt und die Antworten entgegennimmt. Der Meister lässt sich bestimmt an einem angenehmen Ort nieder, an dem man edle Gedanken entwickeln kann. Hinter ihm erheben sich die Berge, zu seinen Füßen strömt ein reißender Sturzbach in die Tiefe. Kiefern klammern sich an einen Felsen, ein Kirschbaum deutet den Frühling an, leuchtende Orchideen hängen von den Ästen herab, Bambuszweige wehen mit raschelnden Blättern hin und her. Der Diener hat einen Wandschirm aus Seide um den Meister aufgestellt, es ist früh am Morgen, der Tag bricht zögernd an, und in der kalten Luft wird jedes Wort des Meisters von feuchten Schwaden begleitet. Mit Pinselstrichen schöpft er Gedichte über den Wind, über die Strömungen der Luft, über die Wellenbewegung der Gräser und die wechselnden Figuren des Wassers. Er sagt sie mit lauter Stimme während er sie mit Tusche zeichnet, und die von seinen Worten modulierten feuchten Schwaden verlieren sich hinter ihm, von der Seide des schützenden Wandschirms aufgesogen. Abends legt er den Pinsel aus der Hand und steht auf. Sein Diener packt alles ein, die Teekanne, das Meditationskissen, das mit Gedichten vollgeschriebene Schreibpapier, den Reibstein, auf dem er zahlreiche Tuschestangen aus schwarzem Kiefernharz angerieben hat. In seiner Eile stolpert der einfache Mann und stößt den noch vollen Reibstein um, sodass die Tusche die Wände des Schirms besprenkelt. Der kostbare Stoff saugt die Tusche gierig auf; doch da, wo die feuchten Schwaden der Worte die Seide imprägniert haben, setzt sich die Tusche nicht fest. Der verwirrte Diener weiß nicht, was er tun soll und betrachtet den verdorbenen Wandschirm, ohne zu wagen, ein Wort zu sagen, er wartet darauf, gerügt zu werden. Doch der Meister sieht das Ergebnis. Die groben Tuschespuren auf den Seidenwänden haben subtile weiße Flächen freigelassen, dort wo sich der Atem seiner Worte festgesetzt hat,

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