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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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sagte Salagnon.
    Euridice blickte mich mit zitternden Lippen an. Sie wollte mir antworten, wusste aber nicht genau was. Was ich gesagt hatte, konnte als ein weiterer Angriff auf ihr Recht zu existieren verstanden werden,
    »Verstehen Sie mich nicht falsch, Euridice. Ich kenne Sie kaum, aber ich lege Wert auf Ihre Existenz. Sie sind da, und man hat immer das Anrecht auf ein Dasein. Ich finde es tragisch, dass Französisch-Algerien verschwunden ist. Ich sage nicht ›ungerecht‹ und nicht ›schade‹, sondern ›tragisch‹. Es hat existiert, ist geschaffen worden, ein Land ist geschaffen worden, in dem Menschen gelebt haben, und heute ist nichts mehr davon übrig. Die Tatsache, dass es auf Gewalt gegründet war, auf der Ungerechtigkeit der Rassentrennung, auf einem schändlichen Blutzoll, der jeden Tag gezahlt wurde, tut der Sache keinen Abbruch, denn das Dasein ist keine moralische Kategorie. Französisch-Algerien hat es gegeben; es gibt es nicht mehr. Das ist tragisch für eine Million Menschen, die von der Geschichte weggefegt worden sind, ohne das Recht zu haben, ihre Trauer auszudrücken. Es ist tragisch für vierundsiebzig Abgeordnete, die in der Nationalversammlung aufgestanden und nach draußen gegangen sind, um nie wiederzukommen, denn sie vertraten nichts mehr. Es ist tragisch für eine Million Algerier, die in Frankreich lebten und die man Muselmanen nannte, um sie von jenen zu unterscheiden, die in Algerien lebten und Franzosen waren und denen man die französische Staatsangehörigkeit entzog, weil ein anderes Land in der Ferne gegründet worden war. Die Namensverwirrung war total. Man benannte alles neu. Und alles wurde klar. Aber man wusste nicht mehr, worüber man sprach. Und die jungen Leute hier, die denen von dort ähneln und denen man aufgrund eines wirren Erbes hier kein vollständiges Dasein zugestehen will, wollen, dass man sie Muslime nennt ähnlich wie die anderen damals, aber in modernisierter Form; das sollte ihnen eine gewisse Würde verleihen als Ersatz für jene, die man ihnen verweigerte. Die Verwirrung war total. Der Krieg ist nah, er würde uns eine Bürde abnehmen. Der Krieg erleichtert, denn er ist einfach.«
    »Eine Einfachheit, die ich nicht mehr wünsche«, flüsterte Salagnon.
    »Dann müssen wir die Geschichte neu schreiben, sie willentlich schreiben, ehe sie sich von selbst hin kritzelt. Man kann über de Gaulle sagen, was man will, man kann sein Talent als Schriftsteller in Frage stellen, sich über seine Fähigkeiten wundern, Störendes zu verzerren und Unangenehmes zu verschweigen und somit Halbwahrheiten entstehen zu lassen; man kann lächeln, wenn er Kompromisse mit der Geschichte schließt, und das im Namen höherer Werte, im Namen literarischer Werte, im Namen der Konstruktion seiner epischen Figuren, angefangen mit seiner eigenen, all das kann man ihm vorwerfen, aber er hat geschrieben. Seine Erfindungen haben uns erlaubt zu leben. Wir konnten stolz sein, als Figuren seines Nationalepos zu existieren, mit dieser Absicht hat er uns geschaffen: stolz zu sein, das erlebt zu haben, was er erzählt hat, auch wenn wir den Verdacht hatten, dass jenseits der Seiten, die er uns widmete, noch eine andere Welt existierte. Doch jetzt muss die Vergangenheit neu geschrieben werden, sie muss erweitert werden. Was hat es für einen Sinn, immer wieder auf der ersten Hälfte der vierziger Jahre herumzukauen? Was soll die Vorstellung von einer katholischen nationalen Identität, diese Identifizierung mit dem Kleinstadtsonntag? Das hat doch keinen Sinn, das gibt es nicht mehr, das ist verschwunden; man muss den Horizont erweitern.
    Wir sind daran zerbrochen, dass wir jene, die ein Bestandteil von uns waren, nicht als vollberechtigte Menschen angesehen haben. Es wurde darüber gelacht, dass wir es nicht gewagt hatten, das einen ›Krieg‹ zu nennen, was wir schamhaft ›die Ereignisse von Algerien‹ nannten. Man hat geglaubt, von einem ›Krieg‹ zu sprechen, würde das Ende der Heuchelei bedeuten. Aber das Wort ›Krieg‹ verweist auf ein fremdes Land, wohingegen diese Gewalthandlungen unter uns stattgefunden hatten. Wir hatten uns doch so gut verstanden; man bringt sich nur unter seinesgleichen richtig um.
    Die Gewalthandlungen innerhalb des Kolonialreichs haben uns unterminiert; die Manie der Kontrollen an den Grenzen der Nation unterminiert uns noch immer. Wir haben die universelle Nation erfunden, ein etwas absurdes Konzept, das aber gerade wegen seiner Absurdität wunderbar ist,

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