Die Frau am Tor (German Edition)
Kessler sich immer wieder Vorstößen des alten Herrn ausgesetzt sah, doch mal abends mit ihm auf der Terrasse einen Whiskey zu trinken, um über die alten Zeiten zu plaudern. Einige Male hatte er nachgeben müssen, um nicht unhöflich zu wirken, aber er versuchte Wiederholungen nach Kräften zu vermeiden.
“ Ach, Herr Kessler, gut, dass Sie da sind”, musste er jetzt von Bergheim hören. “Da war nämlich vorhin eine junge Dame, die etwas in Ihren Briefkasten geworfen hat. Sie hatte bei mir angeklingelt, um in den Hausflur zu gelangen, und deshalb weiß ich es zufällig. Sie war, nebenbei bemerkt, außerordentlich attraktiv, womit ich selbstverständlich nicht angedeutet haben möchte, dass Frau Uhlenbrock weniger attraktiv ist. Ich hoffe, Sie missdeuten meine Bemerkung nicht als indiskret.”
“ So, so, danke, das war nett von Ihnen”, erwiderte Kessler und merkte, dass seine Stimme belegt klang.
“ Sie kam mit einem silbergrauen BMW, so einem Kombi. Das weiß ich deshalb, weil ich zufällig aus dem Fenster geschaut habe”, fuhr Bergheim fort. “Gestern am Nachmittag war sie übrigens auch schon einmal da. Der Wagen stand, lassen Sie mich schätzen, ungefähr vierzig Minuten hier vor dem Haus. Aber die Dame ist nicht ausgestiegen.”
“ Ja, danke nochmals”, sagte er, öffnete den Kasten, packte den Inhalt mit einem Griff und beeilte sich, wieder nach oben in seine Wohnung zu kommen. Bei der Post handelte sich um die üblichen Werbebriefe und Reklamesendungen, doch dazwischen lag ein handgeschriebener Zettel, dessen auffälligstes Merkmal der Abdruck eines roten Lippenpaares war. Der Text, in einer weichen, etwas fahrigen, aber gut lesbaren Schrift mit Kuli verfasst, lautete:
“ Ich hatte ja keine Ahnung, dass Du tatsächlich nicht da warst. Vergiss also meine blöden Anrufe. Aber melde Dich, sobald Du kannst. Julia.”
An was für eine Frau war er da nur geraten! Er hatte längst aufgehört, sich Illusionen über sie zu machen und war sich klar darüber, dass er darauf gefasst sein musste, von ihr noch einiges mehr an heiklen Überraschungen geliefert zu bekommen – womöglich auch solche, an die er bisher noch gar nicht zu denken wagte. Doch dies hier stellte zumindest vorläufig den Höhepunkt an Zudringlichkeiten dar, und er begann sich auf einmal in seiner eigenen Wohnung unbehaglich, ja unsicher zu fühlen. Wenn er eine Möglichkeit gesehen hätte sicherzustellen, dass er niemals wieder etwas mit Julia Gerlach zu tun haben würde, so hätte er sie genutzt, aber er sah sie nicht. Oder sollte er etwa ihretwegen wegziehen, in eine andere Stadt gar? Wer weiß, womöglich hätte sie ihn auch dort aufgespürt. Es war einfach verrückt. Und besonders verrückt war es, dass seine Gedanken fast nur noch um diese Frau und ihr Verhalten ihm gegenüber kreisten und kaum mehr um das, was in jener fatalen Nacht geschehen war, nachdem er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Bei all dem musste er sich ehrlicherweise eingestehen, dass sie ihm immer noch nicht völlig gleichgültig war. In erster Linie empfand er Mitleid mit ihr, einem Menschen, der offenkundig schwere Probleme mit dem Leben hatte, auch ohne das, was jüngst geschehen war. Aber da war auch ein untergründiges Nagen von schlechtem Gewissen, und das, obschon doch sie es war, die in seiner, ihres Retters und Helfers Schuld stand. Sie war so labil und er doch inzwischen ziemlich hart und verletzend zu ihr. Von der erotischen – oder auch nur eher banalen sexuellen – Attraktion gar nicht zu reden, die nach wie vor von ihr ausging, auch wenn er diesen Faktor nur zu gern geleugnet oder zumindest ignoriert hätte. Auf jeden Fall war es ein großer Fehler gewesen, sich auf diese andere Nacht mit ihr einzulassen und mit ihr ins Bett zu gehen. Er hätte sich jetzt im Nachhinein dafür ohrfeigen können, einerseits. Andererseits musste er genau daran, an den Sex mit ihr, an die Verlockungen ihres Körpers, häufiger denken, als ihm lieb war.
Auf jeden Fall würde er sich ab sofort nicht melden, sie nicht anrufen und schon gar nicht zu ihr gehen, das stand fest; den Zettel mit ihrer Nachricht, den er in seiner geballten Faust zerknüllt hatte, ohne es zu merken, zerriss er und warf die Fetzen in den Papierkorb im Arbeitszimmer - ein weiterer Akt der Vernichtung von Indizien, dachte er, ähnlich wie bei der Beseitigung des Toten und seiner Hinterlassenschaften.
Er hatte beschlossen, in der Stadt zu fahren, um ein paar Einkäufe zu erledigen, ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher