Die Frau am Tor (German Edition)
Frank nach Hause – viel früher als angekündigt. Er...er wollte mich überraschen, sagte er. Und wir waren dann den ganzen Abend zusammen. Ich meine, er ist ja schließlich mein Mann, wenn du verstehst, was ich damit sagen will...Jedenfalls hatte ich gar keine Chance mehr, bei dir anzurufen. Es war...es war...”
Plötzlich brach sie ab und schüttelte wieder den Kopf und verzog dabei das Gesicht auf eine Art und Weise, die offen ließ, ob es tatsächlich ein Lächeln sein sollte.
“ Du solltest sehen, dass du jetzt nach Hause kommst, und zwar schleunigst”, sagte er, ohne darauf einzugehen.
“ Ja, ja, ich weiß.”
“ Und lass das da bloß nicht deinen Mann sehen”, empfahl er ihr, während sie den Zettel zusammenfaltete und zurück in die Tasche schieben wollte. Womöglich wäre es am besten, ihn zu vernichten, dachte er, hatte dann aber noch eine andere Idee.
“ Gib ihn lieber mir”, sagte er, “da ist er sicherer”.
“ Wenn du meinst...”
“ Im Grunde ist es gar nicht zu verantworten, dich hier am Steuer sitzen zu lassen, in diesem Zustand. Soll ich nicht besser fahren?”, fragte er und steckte den Zettel ein.
“ Das ist wirklich zu gütig”, entgegnete sie mit unverhoffter Bissigkeit, “aber danke, das ist nicht nötig. Es ist ja schließlich nicht das erste Mal. Ich bin da in Übung.”
Und als er ausstieg, um zurückzugehen, meinte sie spöttisch: “Vielleicht ergibt sich ja ein andermal eine Gelegenheit.”
Wieder war da in ihm dieses fast schon vertraute Durcheinander von Empfindungen, Vermutungen und Assoziationen, durchsetzt mit Skrupeln ebenso wie mit Argwohn und, nicht zuletzt, mit Ärger über sich selbst. Doch als er vor der Haustür stand und nach seinem Schlüsselbund tastete, war all das mit einemmal weg – bis auf den Ärger, der allerdings jetzt andere Gründe hatte. Er musste nämlich die Feststellung machen, dass er vergessen hatte, seine Hausschlüssel einzustecken. Folglich stand er jetzt, frühmorgens kurz vor sechs, vor der verschlossenen Tür, so ein Mist! Er wusste nicht mehr genau, ob er in der Eile die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte, aber als erstes musste er mal ins Haus, und dazu musste er bei einem seiner Mitbewohner anklingeln.
Die Auswahl war nicht groß. Die Schneiders, das Lehrerehepaar, das gegenüber von Herrn Bergheim im Parterre wohnte, waren mit den Kindern im Urlaub. Frau Dörmann oben unterm Dach schied ebenfalls aus, weil sie, wie er mitbekommen hatte, wegen einer Verletzung am Fußgelenk krankgeschrieben war und kaum gehen konnte. Blieben nur sein Flurnachbar von gegenüber, Herr Kurowski, sowie Bergheim. Er versuchte es bei Kurowski, aber der meldete sich nicht. Der junge Mann verbrachte die Nächte gelegentlich anderswo, wie allgemein im Haus bekannt war, und fuhr dann von dort direkt zu seiner Arbeit bei einer Internetfirma irgendwo in Treptow.
Also musste er bei Bergheim anschellen, wohl oder übel. Er tat das nur höchst ungern in Anbetracht dessen, was der penetrant neugierige und redselige Pensionär in letzter Zeit schon mitbekommen hatte, aber ihm blieb keine andere Wahl. Er brauchte nur zwei Mal den Knopf zu drücken, um ein “ja bitte?” aus der Gegensprechanlage zu hören, und sofort, nachdem er seinen Namen genannt hatte, löste sich die Verriegelung.
Bergheim stand im Morgenmantel in seiner Wohnungstür und schaute ihm interessiert entgegen.
“ Nanu, Herr Kessler, schon so früh auf den Beinen?”
“ Schönen Dank erst mal, dass Sie mir geöffnet haben, einen Augenblick, ich muss nur rasch nachsehen, ob wenigstens meine Wohnungstür auf ist”, sagte er und eilte die Treppe hinauf. Die Tür war geschlossen, und mit einem leisen Fluch auf den Lippen hastete er wieder hinunter zu Bergheim, der immer noch in seiner geöffneten Wohnungstür stand.
„ Wissen Sie, mir ist da etwas Dummes passiert“, sagte er zu dem alten Mann.
„ Das passiert jedem irgendwann, dem einen früher, dem anderen später”, antwortete der. “Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Es gibt da immer so einen Punkt im Leben, an dem einem irgendetwas Dummes passiert.”
“ Ich bin aus meiner Wohnung gegangen, ohne die Schlüssel einzustecken, und jetzt komme ich nicht mehr hinein”, sagte er, ohne darüber nachzudenken, dass diese Erklärung im Grunde überflüssig war.
„ Auch das passiert fast jedem irgendwann“, bemerkte Bergheim. “Vergesslichkeit ist nicht immer nur eine Frage des Alters. Übrigens habe ich die
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