Die Frau am Tor (German Edition)
interessante Feststellung gemacht, dass das Alter nicht nur seine unerfreuliche Begleiterscheinungen mit sich bringt. Manches wird immer einfacher, auch wenn das die jüngeren Leute nicht glauben mögen. Ich sage Ihnen, wenn man erst mal die achtzig erreicht hat, löst sich vieles, was man sein Leben lang für schwierig gehalten hat, in Luft auf, einfach so – pffff. Ich gehe davon aus, dass Sie mich jetzt bitten möchten, einmal kurz mein Telefon benutzen zu dürfen, weil Sie nämlich auch kein Handy dabei haben, aber einen Schlüsseldienst anrufen müssen oder sonst jemanden, der einen Zweitschlüssel besitzt – beispielsweise Ihre...Freundin. Obschon, um diese Uhrzeit dürfte Sie wohl nicht sonderlich begeistert sein über Ihren Anruf. Wie auch immer, bitte sehr, treten Sie näher, kommen Sie herein.”
Was Eva betraf, so hatte Bergheim zweifellos recht. Er konnte sie schlecht um Hilfe bitten, schon deswegen nicht, weil ihr Verhältnis seit dem letzten Wochenende viel zu angespannt und fragil war. Außerdem wäre gleich wieder ihre Fragerei losgegangen, was denn eigentlich mit ihm sei. Ihn in aller Herrgottsfrühe vor der eigenen verschlossenen Tür anzutreffen – das wäre gleichsam eine Extra-Portion Nahrung für Evas zweifellos vorhandenen Befürchtungen gewesen, dass er ihr, allen Dementis zum Trotz, eben doch etwas verheimliche. Aber auch unter normalen Umständen wäre es wohl zuviel verlangt gewesen, sie schon um diese Zeit vor Beginn ihrer Arbeit aus Potsdam herkommen zu lassen. Also musste er sich wohl oder übel an einen Schlüsseldienst wenden.
Er war bereits einige Male in Bergheims Wohnung gewesen, die mit ihren dunklen, schweren Möbeln, den dicken Teppichen und Läufern und den Stichen an den Wänden etwas Museales hatte, aber auf eine dezente, unaufdringliche und irgendwie angemessene Weise, die zur Biographie ihres Bewohners zu passen schien. Bergheim wies auf ein kleines Regal in der Diele, das einen ganzen Stapel alter Telefonbücher enthielt – ein anachronistischer Kontrast zu dem nagelneuen schnurlosen Telefon, das auf ihm postiert war.
“ Sie müssen leider in den Gelben Seiten blättern, Internet habe ich nämlich nicht. Ich werde mich währenddessen mal um den Kaffee kümmern. Sie trinken doch sicher einen mit, oder?”
Es kostete ihn mehrere vergebliche Versuche, bis er endlich eine Firma gefunden hatte, die versprach, spätestens binnen anderthalb Stunden zu kommen, und er merkte, wie seine Nervosität wuchs, zumal Bergheim wenig Anstalten machte, seine Neugier zu zügeln und es nicht bei forschenden Blicken beließ. Nachdem er in der Küche den Frühstückstisch gedeckt hatte, lud er ihn ein, sich mit Toast, Honig, Käse und Schinken zu bedienen, und während sie aßen, machte er mehrmals Anspielungen der Art, dass es in der Tat “höchst unangenehm” sei, in “solch eine Situation” zu geraten.
“ Herr Kessler, ich möchte nicht indiskret sein, aber ich habe den Eindruck, dass Sie in gewissen...nun ja, wie soll ich es ausdrücken...Schwierigkeiten stecken, nicht nur aktuell. Habe ich recht?”
“ Wie meinen Sie denn das?”, fragte er zurück, wobei ihm bewusst war, dass es nicht annähernd so gleichmütig klang wie er es sich gewünscht hätte.
“ Na ja, es geht mich natürlich nichts an, aber da war doch diese junge Dame, die unbedingt zu Ihnen wollte und mit ihrem Wagen vor dem Haus wartete. Dann kamen Sie am Sonntagmittag, wider alle Gewohnheit, ohne Ihre Freundin, Frau Uhlenbrock, zurück. Gestern Nachmittag traf ich Sie in einem, Sie werden entschuldigen, etwas merkwürdigen Zustand an und heute gehen Sie in aller Herrgottsfrühe ohne Schlüssel aus dem Haus. Sie dürfen mir das, bitte, nicht übel nehmen, aber da macht man sich dann doch so seine Gedanken.”
Du alter Schnüffler, was geht dich das eigentlich an, fluchte er insgeheim und wäre am liebsten aufgestanden und gegangen. Aber das wäre nicht nur unhöflich, sondern auch unklug gewesen, weil er Bergheim dadurch erst recht Anlass zu Spekulationen geliefert hätte, und er zwang sich dazu, sich zusammenzureißen.
“ Ich glaube, Sie bringen da Dinge in einen Zusammenhang, die gar nichts miteinander zu tun haben”, sagte er in sachlichem Ton. “Ich bin heute einfach früh aufgestanden, weil ich gestern früh zu Bett gegangen bin und mich ausgeschlafen fühlte, und dann wollte ich Brötchen holen, stellte aber, sobald die Haustür hinter mir zugefallen war, fest, dass ich leider die Schlüssel
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