Die Frau am Tor (German Edition)
keinerlei Regung dieser Art. Genau genommen empfand er überhaupt nichts. Und sonderbar war auch, dass sich seine Hände anders als gewohnt anfühlten. Erst jetzt gewahrte er, dass sie immer noch in den Gummihandschuhen steckten, die er sich von Julia hatte geben lassen, um ohne das Risiko unerwünschter Fingerabdrücke die Taschen des Toten zu durchsuchen. Na wunderbar, das war doch immerhin etwas. Wie gut, dass er sie anbehalten hatte. So brauchte er sich jetzt wenigstens keine Sorgen um Spuren in dem Auto zu machen – ein Aspekt, dem er während seines Tuns interessanterweise überhaupt keine Beachtung geschenkt hatte. Nun, das hatte sich ja zum Glück jetzt erledigt. Und ab sofort würde er sowieso keinen Finger mehr rühren, um das bislang nicht sonderlich überzeugende Arrangement des fiktiven Unglücksfalls zu perfektionieren.
Sollte der tote Mann doch auf seinem Beifahrersitz hocken bleiben, sollte die Polizei sich den Kopf darüber zerbrechen, wieso er nicht am Steuer saß und was geschehen war. Er, Robert Kessler, hatte damit nicht das Geringste zu schaffen, es ging ihn schlichtweg nichts mehr an. Und am allerwenigsten kümmerte ihn, wie es Julia Gerlach fortan ergehen mochte. Diese Verrückte, die ihn zu allem Überfluss jetzt auch noch hier allein in der Pampa hatte sitzen lassen, konnte sich nun wirklich endgültig zum Teufel scheren. Schlimm genug, dass er ihr ein weiteres Mal nachgegeben, sich von ihrer Drohung hatte unter Druck setzen lassen – aber egal, das war nun vorbei, endgültig abgehakt. Er musste dieses dunkle, beschämende Kapitel vergessen und in sein normales Leben zurückkehren. Sollte diese Frau es jemals wieder wagen, ihm über den Weg zu laufen oder ihn gar zu belästigen, würde sie ihr blaues Wunder erleben. Dann würde sie schon merken, dass sie mit ihrer Einschätzung, er sei “nicht böse”, womöglich völlig falsch lag.
Er brauchte jetzt nur noch nach Hause zu gehen und sich endlich ins Bett zu legen, um richtig auszuschlafen. Gut, das war ein ordentliches Stück, das er da zu laufen hatte, und es würde wohl einige Zeit kosten. Aber Zeit hatte er ja, reichlich sogar. Niemand drängte ihn, niemand trieb ihn zur Eile, niemand fiel ihm auf die Nerven. Er brauchte einfach nur zu gehen, immer einen Fuß vor den anderen zu setzen, das funktionierte fast von selbst. Er brauchte gar nichts anderes zu tun, als immer nur zu gehen. Allenfalls konnte er noch versuchen, gleichzeitig etwas gegen das permanente, lästige Rattern des Gedankenapparats in seinem Kopf zu unternehmen. Das war schon entschieden schwieriger, als nur den Vorgaben des Bewegungsautomaten zu folgen, der in seinem übrigen Körper seine Arbeit verrichtete. Aber irgendwann hatte er das Gefühl, dass ihm selbst dies gelang.
Als um so ärgerlicher empfand er die Störung, die ihm unvermittelt dazwischenkam und sein gerade erst entwickeltes aktuelles Daseinskonzept durchkreuzte - erst in Form eines Lichts, das ihn blendete, dann eines brummenden Geräuschs, das abrupt in ein Quietschen überging und schließlich einer Stimme, die aufdringlich und schrill an sein Trommelfell drang.
“ Jetzt komm schon, steig ein”, rief sie ihm zu. “Es tut mir leid, ich habe den Kopf verloren, als ich dich dort plötzlich nicht mehr sah, bitte entschuldige.”
Er hoffte, dass sie verstummen würde, wenn er sie einfach ignorierte und setzte seinen Weg fort, ohne zur Seite zu blicken. Daraufhin veränderte das brummende Geräusch vorübergehend seine Frequenz und wenig später kam das Licht von hinten und beleuchtete die Straße vor ihm.
“ Bitte, nun sei doch nicht so stur, steig endlich ein. Du kannst doch nicht den ganzen Weg zurücklaufen”, meldete sich die Stimme wieder.
Er beschleunigte seinen Schritt.
Nach einer Weile hörte er wieder dieses quietschende Geräusch neben sich, gefolgt vom Klappen einer Tür – und dann spürte er auf einmal eine Hand an seinem Arm, die ihn festzuhalten versuchte, während die Stimme erneut sagte:
“ Nun komm schon endlich, steig doch in den Wagen. Was soll denn dieses Theater!”
Er packte die Hand und löste sie von seinem Arm, presste das Gelenk so heftig, dass er einen Aufschrei hörte, und drückte ihn dann nach unten, mit aller Kraft, die er noch hatte, so lange, bis die Person, der der Arm gehörte, wimmernd am Boden kniete. Nein, ich bin nicht böse, sagte eine fremde Stimme in seinem Kopf, ich bin überhaupt nicht böse. Und seine eigene Stimme sagte, so ruhig und
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