Die Frau am Tor (German Edition)
dort sind wir ungestört.“
23.
Sie brachten ihn weiter weg, als er ursprünglich vorgehabt hatte, nachdem er verschiedene Möglichkeiten und Optionen erwogen und verworfen und schließlich seinen Plan gefasst hatte.
Nein, sie brauchten den toten Mann namens Heiko Krollmann weder zu anonymisieren noch war es sinnvoll, ihn irgendwo in der Nähe seiner Wohnung auf einer Parkbank oder an einer Bushaltestelle abzusetzen, das war ihm längst klar geworden. Da sie sein Auto hatten, gab es eine viel einfachere Lösung. Ihn in der dunklen, unbebauten Straße aus dem Kofferraum von Julias BMW auf den Beifahrersitz des Passat zu hieven, war kein sonderliches Problem gewesen. Der kleine Mann erwies sich tatsächlich als leichte Fracht, kaum ein Wunder, dass selbst Julia damit fertig geworden war.
Er hatte sich noch nie ernsthaft mit der Frage beschäftigen müssen, wann und wie die Leichenstarre einsetzt. Im Fall Oliver Rensings hatte sie sich nicht gestellt, weil er und Julia seinen Leichnam wie einen ohnehin sperrigen Gegenstand behandelt, transportiert und schließlich verscharrt hatten. Jetzt lagen die Dinge zwar etwas anders; Heiko Krollmann war postum zum Beifahrer in seinem eigenen Auto gemacht worden. Aber selbst wenn die Starre über kurz oder lang einsetzen sollte, würde das keine nennenswerte Herausforderung an die Kräfte eines Mannes darstellen, der einigermaßen in Form war.
Angesichts solcher Überlegungen musste er unvermittelt gegen eine heftige Anwandlung von Scham ankämpfen – von bodenloser Scham. Wie war es nur möglich, dass ein bis dahin kultiviert lebender Mensch, der sich obendrein auch noch stets etwas auf seine humanistischen Ideale zugute hatte halten können, binnen kürzester in einen derartigen Abgrund zutiefst pietätloser, morbider Skrupellosigkeit geraten war?
Er kurbelte das Fenster herunter, um frische Luft hereinzulassen und den Geruch zu vertreiben, der sich sonst, wie er zu wissen glaubte, im Wageninneren breitmachen würde, und in den sich, wie er zu riechen meinte, auch andere hässliche Ausdünstungen mischten, die von ihm selber stammten.
Es war Weißgott nicht das erste Mal, dass er aufgrund bestimmter Umstände gezwungen war, sich zeitweise in unmittelbarer Nähe eines Toten aufzuhalten. Auf Anhieb hätte er ohne weiteres ein halbes Dutzend derartiger Situationen aufzählen können. Doch die aktuellen Umstände eine neue, makabre Erfahrung für ihn dar, eine, von der er niemals geahnt hätte, dass sie ihm je zuteil werden würde. Bei all dem musste er sich eingestehen, dass ihm nicht nur die Gegenwart seines Beifahrers Widerwillen verursachte, sondern banalerweise auch dieses Auto, das sich zäh fuhr und auf eine irgendwie unsympathische, ja vulgäre Art alt anmutete – ganz im Gegensatz zu seinem eigenen, durch seine Betagtheit geadelten Alfa. Erstmals wieder fiel ihm ein, dass er in der Werkstatt hatte anrufen wollen, und er empfand einen gelinden Schock bei der Erkenntnis, wie unwichtig das momentan war.
Im Rückspiegel sah er die Scheinwerfer von Julias BMW. Er hatte ihr aufgetragen, in einem gewissen Abstand bleiben und ebenfalls anzuhalten, wenn sie ihn anhalten sah. Erst wenn er alles erledigt hatte, sollte sie zu ihm aufschließen und ihn einsteigen lassen, und dann würden sie sich schleunigst auf den Rückweg machen.
Die Straße war von Bäumen gesäumt, doch es waren zu wenige, als dass es für die korrekte Bezeichnung Allee gereicht hätte. Sie führte durch ein stark zersiedeltes Gebiet im Süden des Bezirks Schöneberg/Tempelhof, dessen er sich erinnert hatte, weil er dort einmal versehentlich gelandet war, nachdem er sich hoffnungslos verfahren hatte. Eine schreckliche, trostlose Gegend. Nichts erinnerte hier daran, dass man sich immer noch auf dem Boden der Hauptstadt befand. Es gab einen Baumarkt, einige Gartencenter, wenige kleine, geduckte, schäbige Häuser und ansonsten nur riesige, ungenutzte Areale, verkommenes Brachland – eine Szenerie, die bei Tag diedeprimierende Anmutung eines vergessenen halb-agrarischen Landstrichs aufwies und jetzt, tief in der Nacht, so ausgestorben dalag wie manches brandenburgische Dorf infolge der grassierenden Landflucht. Weit und breit war kein anderes Fahrzeug zu sehen.
Er war zu dem Schluss gelangt, dass es ihm letztlich gleichgültig sein konnte, wenn später darüber gerätselt würde, weshalb Heiko Krollmann ausgerechnet hier des Nachts unterwegs gewesen war. Man würde ihn tot am Steuer seines Wagens finden
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