Die Frau an Seiner Seite
Verfehlungen, die sie nicht begangen hatte, mit deren Folgen sie aber dennoch leben musste, war eine tiefe Demütigung. Ihre Überzeugung, als redlich arbeitender Mensch, der sich auch um diesen Staat verdient gemacht hatte, müsse auch als solcher wertgeschätzt werden, bekam einen ungeheuerlichen Knacks. Die Gattin des Altkanzlers fühlte sich als Opfer, war getroffen bis ins Mark und am Ende ihrer Kraft. Das probate Mittel, Problemen mit Disziplin und preußischem Durchhaltevermögen die Stirn zu bieten, funktionierte nicht mehr. Für sie war der Moment gekommen, in dem nichts mehr ging – und in dem sie vor allem keine Hoffnung mehr hatte, dass ihr Leben besser werden könnte. Hinzu kamen ihre Einsamkeit, das Gefühl, von aller Welt – auch den geliebten Söhnen – verlassen zu sein. Es gab aus ihrer Sicht niemanden in ihrem Umfeld, der hätte helfen können. Auch wenn sie selbst vielleicht keine eindeutigen Signale aussendete.
Ihre Lichtallergie galt in ihren Augen als unheilbar, Hoffnungslosigkeit hatte sich schon lange breitgemacht. Außerdem fühlte sie sich zutiefst verletzt und entwertet, als sich Gerüchte häuften, wonach ihr Mann seit längerem eine Liebesbeziehung zu einer bedeutend jüngeren Frau unterhalte. Das alles zog ihr den brüchigen Boden unter den Füßen in dem Maße weg, dass sie nur noch einen einzigen Ausweg sah. Selbstmord.
Psychotherapeuten sehen in Hannelores Selbsttötung eine letzte Aggression gegen sich und ihr Umfeld. Das Tragische bei einem solchen Suizid sei es, dass sich die Selbstmörderin dessen gar nicht bewusst ist. Es ist ein unbewusster destruktiver Akt, der bei den Hinterbliebenen das tiefe Gefühl von Schuld hinterlassen kann.
In ihren fast gleichlautenden Briefen an ihre Freundinnen bat Hannelore um Verständnis für ihren Freitod und darum, sie in ihren Herzen zu behalten. Im Abschiedsbrief an ihren Mann heißt es: »Ich habe lange über diesen Schritt nachgedacht, glaube es mir. Es fällt mir sehr schwer, Dich nach über 41 Jahren zu verlassen. Aber ein langes Siechtum in Dunkelheit will ich mir und Dir ersparen, zumal die Unheilbarkeit nun leider mehrfach bestätigt wurde. Ich habe viele Jahre um das Natürlichste von der Welt, um Licht und Sonne, gekämpft, leider vergebens. Es wird immer schlechter, und meine Kraft ist nun zu Ende. Viele Symptome des Abbaus und des Kräfteverlustes habe ich bereits. Man kann es auch Stoffwechselbeschädigung nennen. Wie könnte es auch anders sein nach jahrelangem Sonnen- und auch Lichtentzug. Meine Hoffnung auf Heilung ist nach diesen acht Jahren verschwunden und nach Konsultationen so vieler Fachleute, sie haben mir – je nach Temperament – durchaus auch brutal die Meinung gesagt. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass noch ein Wunder geschieht. Ich bin jetzt 68 Jahre alt, ein Alter, das dem Leben seinen Platz eingeräumt hat. Ich danke Dir für viel Hilfe, Zuspruch und Deine Versuche, mein Leben zu erleichtern. Zusammen mit Dir habe ich viele gute Jahre gehabt, und auch schlechte Zeiten haben wir durchgestanden. Ich danke Dir für ein Leben mit Dir an Deiner Seite – voller Ereignisse, Liebe, Glück und Zufriedenheit. Ich liebe Dich und bewundere Deine Kraft. Möge sie Dir erhalten bleiben. Du hast noch viel zu tun. Dein Schlänglein.« Dieser Kosename war nicht ausgeschrieben, sondern wie immer gemalt.
LEBENSLEISTUNG
Einen liebevollen Abschiedsbrief erhielt auch der ehemalige Ärztliche Direktor an der Neurologischen Universitätsklinik in Tübingen, Professor Dr. med. Dr. phil. Klaus Mayer. Der entscheidende und einflussreichste Mitbegründer des Kuratoriums ZNS sieht in Hannelores Schreiben ein Vermächtnis. Denn in ihrem Brief sprach sie neben einem letzten Dankeschön den herzlichen Wunsch aus, Mayer möge »unserem gemeinsamen Werk treu bleiben und es fortsetzen«. Die Stiftung hat diesem Wunsch während der letzten zehn Jahre Rechnung getragen und fühlt sich dem auch weiterhin verpflichtet. Für Hannelores persönlichen Abschiedswunsch – »behalte mich in Deinem Herzen« – bedarf es für Hans Mayer keines Bemühens. Sie wird in seinem Herzen bleiben und in den Herzen all derer, für die sie sich eingesetzt hat. Mit ihrer Stiftung hatte die Kanzlergattin dafür gesorgt, dass Hirnverletzte und Hirngeschädigte überhaupt erst einen Platz in der bundesdeutschen Gesellschaft bekamen. Ihr war es wichtig, dass diese Menschen akzeptiert und vor allem respektiert wurden. Sie hatte sich dafür eingesetzt, den
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