Die Frau aus Alexandria
Prozess,
weil Ihr Euer eigenes Volk verraten habt. Warum nur habt Ihr den Polizisten angegriffen? Auf diese Weise gründet man hier keine Baumwollfabriken!« Das Lächeln verschwand nicht von seinen Zügen, doch in seinen Augen glomm Misstrauen.
Die beiden anderen sahen aufmerksam zu. Pitt hatte das Gefühl, dass auch sie ihm nicht trauten.
Er erwiderte das Lächeln. »Habe ich gar nicht«, entgegnete er. »Ich bin über einen Teppich gestolpert.«
Einen Augenblick lang herrschte völliges Schweigen, dann brüllte Avram vor Lachen, und im nächsten Augenblick stimmten die beiden anderen mit ein.
Doch nach wie vor schienen sie nicht sicher, wie sie ihn einzuschätzen hatten. Sicherlich gab es hier etwas zu erfahren, das war Pitt klar. Möglicherweise meinten die Männer, man habe ihn eingeschleust, um sie auszuhorchen und die Rädelsführer aufzuspüren. Gewiss gab es auch in Alexandria so etwas wie den Sicherheitsdienst. Auf keinen Fall durfte er Fragen stellen, höchstens nach Ayesha Sachari und vielleicht nach Lovat, obwohl sich dieser schon seit mehr als zwölf Jahren nicht mehr im Lande aufhielt. Es wurde immer wichtiger für ihn, dass er nicht nur erfuhr, wie sich die Dinge verhielten, sondern es auch verstand. Dabei hätte er Narraway den Grund für dies Bedürfnis nicht einmal nennen können, sofern ihn dieser danach gefragt hätte.
Die drei Männer warteten auf seine Erklärung. Sie musste unbedingt harmlos sein.
»So, so, über einen Teppich gestolpert«, wiederholte Avram mit bedächtigem Nicken, das Lachen noch in seinen Augen. »Möglicherweise glaubt man Euch das. Stammt Ihr aus einer bedeutenden Familie?«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Pitt. »Mein Vater war Dienstbote auf dem Besitz eines reichen Mannes, und auch meine Mutter gehörte zum Personal. Beide leben nicht mehr.«
»Und der Reiche?«
Pitt zuckte die Achseln, doch trat ihm die Erinnerung deutlich vor Augen.
»Auch er lebt nicht mehr. Aber er war gut zu mir. Er hat mich zusammen mit seinem eigenen Sohn ausbilden lassen – um ihn anzuspornen.« Er fügte das hinzu, um seine gebildete Sprechweise zu erklären. Vermutlich konnten sie gut genug Englisch, um zu wissen, wie die Angehörigen der Unterschicht sprachen und wie die anderen.
Alle sahen zu ihm her: Kyril zweifelnd, Musa mit deutlicher Ablehnung. Draußen begann ein Hund zu kläffen. Die Hitze in dem Raum schien noch zuzunehmen. Pitt spürte, wie ihm am ganzen Leibe der Schweiß herablief.
»Und was wollt Ihr hier in Alexandria?«, fragte Musa mit rauer Stimme. »Ihr seid doch bestimmt nicht einfach gekommen, um zu sehen, ob wir Baumwollfabriken wollen. Da muss etwas anderes dahinter stecken!« Das war nicht nur eine Aufforderung, seine Anwesenheit zu erklären, sondern vielleicht auch eine Warnung.
Pitt beschloss, die Wahrheit ein wenig zu verbrämen. »Natürlich nicht«, sagte er. »Ein britischer Diplomat ist getötet worden, ein früherer Soldat, der vor zwölf Jahren hier stationiert war. In London ist man der Ansicht, eine Ägypterin habe die Tat begangen, und meine Aufgabe ist es zu beweisen, dass sie es nicht war.«
»Aha, Polizist!«, knurrte Musa und machte eine Bewegung, als wolle er aufstehen.
»Die Polizei hat die Aufgabe nachzuweisen, ob jemand eine Tat begangen hat, nicht aber, ob er schuldlos ist«, fuhr ihn Pitt an. »Jedenfalls ist das bei uns in England so! Nein, ich bin kein Polizist. Meint Ihr nicht auch, dass ich ansonsten längst nicht mehr hier wäre?«
»Ihr wart bewusstlos, als man Euch hereingebracht hat«, gab Avram zu bedenken. »Wem hättet Ihr das sagen sollen?«
»Gibt es da draußen keinen Wächter?« Pitt wies mit dem Kopf zur Tür.
Avram zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich schon. Allerdings glaubt wohl keiner, dass wir ausbrechen werden — leider.«
Pitt hob den Blick zum Fenster.
Kyril stand auf, ging hinüber und ruckte am mittleren Gitterstab. Dann wandte er sich mit spöttischem Lächeln zu Pitt um.
»Wer hier raus will, braucht Köpfchen. Mit Gewalt geht das nicht«, sagte Musa. »Oder Geld?« Er hob fragend eine Augenbraue.
Pitt angelte in seinem Schuh. Ob es sich lohnte, was er noch hatte — wenn er es noch hatte —, auszugeben, um sich Verbündete zu schaffen? Vermutlich wussten sie nichts über die Ägypterin oder Lovat, aber vielleicht konnten sie ihm helfen, etwas in Erfahrung zu bringen – sofern es überhaupt etwas gab, was sich zu erfahren lohnte. Allmählich bezweifelte er das.
Die Augen aller ruhten
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