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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Nachtwind trug einen Hauch von Kühle herbei, die nach dem langen, heißen Tag erfrischend wirkte.
    »Und dann war da natürlich die Frau«, sagte Ishaq mit betont teilnahmsloser Stimme. Es entging Pitt nicht, dass er ihn dabei aufmerksam ansah. »Wenn ihn aber jemand deswegen hätte umbringen wollen, wäre es damals passiert. Sie war Tochter eines reichen und gebildeten Mannes. Wäre sie Muslimin gewesen, hätte das Schwierigkeiten geben können ... große Schwierigkeiten. Aber sie war Christin. Übrigens war Mr Lovat ausgesprochen fromm.« Im Dunkel der Lehmhütte ließ sich der Ausdruck auf Ishaqs Gesicht nicht deuten, aber in seiner Stimme hörte Pitt ein Dutzend verschiedene Empfindungen mitschwingen. Bei einem Engländer hätte Pitt möglicherweise jede einzelne von ihnen deuten können, aber er befand sich in einem fremden Land mit einer unendlich komplexen alten Kultur und sprach mit einem Mann, dessen Vorfahren diese außerordentliche Zivilisation tausende von Jahren vor Christi Geburt, ganz zu schweigen von der Entstehung des britischen Weltreichs, geschaffen hatten. Ja, die Pharaonen waren bereits Herrscher über ein eigenes Großreich gewesen, bevor Moses geboren oder Lot bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha errettet wurde.
    Er spürte den harten Boden unter sich, fühlte die schwere warme Luft und hörte, wie sich die Tiere draußen hin und wieder bewegten. Obwohl all das ebenso wirklich war wie das Sirren der Stechmücken, hatte er ein Gefühl von Unwirklichkeit, als wäre seine Anwesenheit dort ein Traum. Der Gedanke, dass Saville Ryerson in London im Gefängnis saß, bedrückte ihn ebenso wie der, dass Narraway erwartete, er werde eine Möglichkeit entdecken, wie sich ein Skandal abwenden ließ.
    »Er war also sehr fromm?«, fragte er neugierig.
    »Ja«, nickte Ishaq. Wieder ließ sich der Ausdruck auf seinem Gesicht nicht deuten. »Er hat sich häufig beim alten Heiligtum unten am Nil aufgehalten. Diesen Ort hat er gern aufgesucht. Er ist sehr heilig – auch wir haben ihn verehrt.«
    »Wie?«, fragte Pitt verwirrt. »Angehörige des Islam?«
    »Ja. Bevor er ...« Ishaq verstummte.
    Avram warf ihm einen finsteren Blick zu.
    Ishaq sah an Pitt vorbei. »Mein Vater hat sie alle beerdigt«, sagte er so leise, dass Pitt die Worte kaum hörte. »Ich weiß noch genau, wie sein Gesicht monatelang danach ausgesehen hat. Ich dachte, er würde nie darüber hinwegkommen. Vielleicht war es auch so — es hat ihn den Rest seines Lebens im Traum heimgesucht. Am schlimmsten war es, als er starb.« Er holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Sein Atem klang zittrig. »Ein treuer Diener hat sich um ihn gekümmert, hat getan, was er konnte, um es ihm zu erleichtern, aber er konnte nicht verhindern, dass die Geister immer wiederkehrten.« Sein Gesicht verzog sich schmerzlich, und seine Stimme bebte vor Mitgefühl. »Stundenlang hat er mit ihm gesprochen, ihm davon erzählt. Er musste es einfach tun. Er hatte grauenhafte Träume ... das Blut und die aufgeplatzten Gliedmaßen, wie gekochtes Fleisch, Gesichter, so verkohlt, dass man kaum noch Menschen in ihnen erkennen konnte ... Ich habe gehört, wie er geweint hat ...« Er sprach nicht weiter.
    Pitt sah zu Avram hin. Dieser schüttelte den Kopf.
    Sie warteten schweigend.
    »Feuer«, sagte Ishaq schließlich. »Vierunddreißig, soweit es möglich war, die Reste in der Asche zu zählen. Sie waren darin gefangen.«
    »Das tut mir Leid«, sagte Pitt leise. Er hatte in England Brände miterlebt, kannte die entsetzlichen Folgen, wusste, dass er den Geruch von brennendem Fleisch nie vergessen würde.
    Ishaq schüttelte den Kopf. »Mein Vater ist tot und der Diener auch.«
    Avram fuhr auf. »Das wusste ich nicht.«
    Ishaq biss sich auf die Lippe und schluckte. »In Alexandria — ein Unfall.«
    »Das tut mir Leid«, sagte Avram kopfschüttelnd.
    Ishaq öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch einen Augenblick lang brachte er es nicht fertig, seinen Kummer zu beherrschen.
    Pitt und Avram schwiegen. Draußen war es vollständig dunkel. Durch die offenen Fenster sah man die Sterne im Samt des Himmels schimmern. Endlich wurde es kühler.
    Schließlich hob Ishaq den Blick. »Ich glaube, das Feuer hat auch Leutnant Lovat zu schaffen gemacht«, sagte er. Seine Stimme klang wieder gefasst. »Bald darauf wurde er krank. Irgendein Fieber, sagte man. Es schien damals im Lager umzugehen. Er wurde nach Hause geschickt. Ich habe ihn nie wieder gesehen.«
    »Sind seine

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