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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Martin Garvie«, entgegnete er.
    »Mir brauchen Sie das nicht auseinander zu setzen – Charlottes Sorge um den jungen Mann ist mir bekannt.«
    Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen und verschwand gleich wieder. »Mrs Pitt hatte in Erfahrung gebracht, wo er sich aufhielt«, sagte er knapp. »Von einem Priester in der Gegend von Seven Dials.« Ein leichter Wind wehte, als sie nebeneinander vom Gerichtsgebäude den Ludgate Hill hinab und dann ostwärts auf den riesigen Schatten zugingen, den die Sankt-Pauls-Kathedrale warf, deren Kuppel sich dunkel vor dem hellen Himmel abzeichnete.
    »Das sieht Charlotte ähnlich«, sagte sie.
    Er holte Luft, als wolle er etwas sagen, doch dieser Gedanke wurde von einem weit düstereren verdrängt.
    »Vor zwölf Jahren ist es in Ägypten zu einem üblen Übergriff gekommen«, sagte er so rasch, dass sie ihn kaum hören konnte, »an dem Lovat, Garrick, Sandeman und Yeats beteiligt waren. Damals hat Ferdinand Garrick in seiner Eigenschaft als Garnisonskommandeur die Sache vertuscht. Falls jetzt jemand davon erfährt, gleich wer, besteht die Möglichkeit, dass es in Ägypten zum Aufruhr kommt, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es uns Suez kosten könnte. Es gibt Männer, die entschlossen sind zu töten, damit weiterhin Stillschweigen über die Sache bewahrt wird.«
    »Ich verstehe.« Sie atmete tief ein. Der Gedanke, den er da vorgetragen hatte, überraschte sie nicht. Es ging um Geld, Macht und
tiefe Bindungen. »Heißt das, man hat Lovat aus Rache dafür getötet?«
    »So sieht es aus. Bei allem, was uns heilig ist ... Wer würde das nicht tun? Aber ich werde Stephen Garrick schützen, solange es nötig ist. Das dürfen Sie seinem Vater gern sagen. Mein Interesse daran, ihn vor seinen Feinden in Sicherheit zu bringen, ist ebenso groß wie seines. Sagen Sie bitte nicht mehr. Ich weiß noch nicht, wer seine Finger in diesem Spiel hat, und schon gar nicht, auf welcher Seite. Gern würde ich auch Ryerson retten, wenn mir das möglich wäre, aber das steht nicht in meiner Macht.«
    Sie zögerte kurz. »Kann ich ihn besuchen, ihm einen Freundschaftsdienst leisten?«, fragte sie.
    »Ich werde das für heute Abend arrangieren«, versprach er. »Bei der Gelegenheit sollten Sie ihm alles mitteilen, was Sie sagen wollen. Sobald die Geschworenen mit der Sache befasst sind, kann ich ... unter Umständen nichts mehr erreichen.«
    Sie merkte, dass ihre Stimme zitterte, als sie sagte: »Ich verstehe. Danke.«
    »Lady Vespasia.« Er wagte nicht, ihren Namen ohne das Adelsprädikat zu benutzen, weil sie darin möglicherweise eine Unverschämtheit sehen würde.
    »Ja?« Sie hatte sich wieder gefasst.
    »Es tut mir von Herzen Leid.« Der Schmerz in seinem Gesicht war unverhüllt. Sie wusste nicht, warum ihn eine Verurteilung Ryersons so tief treffen sollte, ja, nicht einmal, ob er ihm mehr zur Last legte als Torheit, aber sie war völlig sicher, dass sie Zeugin einer tiefen persönlichen Empfindung war, die nicht das Geringste mit dem Beruf des Mannes zu tun hatte.
    Sie blieb im Schatten der Sankt-Pauls-Kathedrale auf dem stillen Gehweg stehen und sah ihn an. »Auf manche Dinge hat man einfach keinen Einfluss«, sagte sie leise. »Ganz gleich, wie sehr wir uns das wünschen.«
    Er war verlegen. So hatte sie ihn noch nie zuvor erlebt.
    »Seien Sie um acht Uhr am Eingang von Newgate«, sagte er, dann wandte er sich um und kehrte zum Gericht zurück.
     
    Selbst Narraway konnte für Vespasia nur die Erlaubnis zu einem äußerst kurzen Besuch erreichen. Obwohl sie darauf eingestellt war, bei Ryerson Anzeichen auf den enormen Druck zu erkennen, dem er vermutlich ausgesetzt war, entsetzte sie sein Anblick. Früher hatte er durch seine bloße körperliche Erscheinung auf alle Anwesenden einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, sie war immer das Bemerkenswerteste an ihm gewesen, weit eindrucksvoller noch als sein Charakterkopf, seine Intelligenz oder sein Charme.
    Als er sich jetzt bei ihrem Eintritt in seine Zelle erhob, wirkte er völlig erschöpft. Seine Haut war bleich und sah sonderbar trocken aus, fast wie Papier. Er trug dieselbe Kleidung wie bei ihrem vorigen Besuch, doch schien sie jetzt lose an ihm herunterzuhängen.
    »Vespasia ... wie freundlich von Ihnen zu kommen«, sagte er mit rauer Stimme. Er hielt ihr eine Hand zur Begrüßung hin, zog sie dann aber zurück, als befürchte er mit einem Mal, es könne ihr unangenehm sein, sie zu berühren.
    Schmerzlich kam ihr der Gedanke,

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