Die Frau aus Alexandria
Zeitpunkt zu fragen. Sie hatte Ja gesagt, das genügte.
Sie ging an ihm vorüber zum Herd. Sie fühlte sich ungeheuer erleichtert. Sie war so weit gegangen, wie sie im Augenblick konnte. »Bis du deshalb gekomm’?«, fragte sie.
»Nein. Das hatte ich schon ... schon eine Weile vor. Ich wollte Mr Pitt sagen, dass die Polizei im Fall Eden Lodge einen neuen Zeugen hat und dass es ziemlich schlimm aussieht.«
Sie schob den Kessel über die Feuerstelle und drehte sich zu ihm um. »Was für’n Zeuge is das?«
»Er sagt, er weiß, dass die Ägypterin Mr Lovat eine Mitteilung geschickt hat, in der es hieß, er solle zu ihr kommen«, sagte er mit finsterer Miene. »Natürlich muss er das vor Gericht bestätigen.«
»Was könn’n wir tun?«, erkundigte sie sich besorgt.
»Nichts«, gab e r zur Antwort. »Aber es ist besser, wenn man es weiß.«
Sie nahm das stumm zur Kenntnis, machte sich aber um Pitts willen große Sorgen. Nicht einmal das Gefühl der Wärme in ihr und der kleine Triumph, den sie empfand, weil sie sich der Entscheidung gestellt und sie akzeptiert hatte – und mit ihr all die bedeutenden Veränderungen, die eines Tages daraus erwachsen würden –, verdrängten ihre Sorge um Pitt und den Fall, den sie jetzt wohl nicht mehr für sich würden entscheiden können.
Bald darauf kehrte Pitt zurück. Er dankte Tellman für seinen Bericht, zog den Mantel an und verließ sofort wieder das Haus. Diese Neuigkeit konnte nicht bis zum nächsten Tag warten; Narraway musste sie unverzüglich erfahren. Es war Freitagabend, und so waren ihnen bis zur Fortsetzung des Verfahrens zwei Tage geschenkt. In dieser kurzen Zeit ließ sich wohl schwerlich etwas Entscheidendes bewirken. Einen so vollständigen Fehlschlag wie diesen hier hatte Pitt noch nie erlitten. Dies Bewusstsein verursachte ihm eine innere Leere und ein Gefühl der Bitterkeit, von dem er nicht glaubte, dass er es je würde abschütteln können.
Natürlich war es auch früher vorgekommen, dass er einzelne Fälle nicht zu lösen vermochte. Bei anderen war er sicher gewesen, dass er die Lösung wusste, ohne dass er sie beweisen konnte – doch waren sie nicht von so weit tragender Bedeutung gewesen.
Als Narraway hörte, wie die Tür zu seinem Arbeitszimmer geöffnet und geschlossen wurde, hob er die Augen und sah Pitt vor
sich stehen. Ein Blick auf sein Gesicht genügte. »Nun?«, fragte er und beugte sich vor, als wolle er sich erheben.
»Die Polizei hat einen Zeugen, der aussagt, Miss Sachari habe Lovat schriftlich aufgefordert, zu ihr zu kommen«, sagte er einfach. Die Sache als weniger entsetzlich hinstellen zu wollen, als sie war, wäre sinnlos gewesen. Schon bevor Narraway den Mund auftat, war ihm das vollständige Ausmaß der Katastrophe bewusst.
»Sie hat ihn also absichtlich in ihren Garten gelockt«, stieß Narraway bitter hervor. »Entweder hat er die Mitteilung selbst vernichtet, oder sie hat sie wieder an sich gebracht, bevor die Polizei gekommen ist. Wir haben es also nicht mit einer spontanen Handlungsweise zu tun, sondern mit einem geplanten Mord.« Nachdenklich legte er das Gesicht in Falten. »Aber hat es zu ihrem Plan gehört, Ryerson mit in die Sache hineinzuziehen, oder war das ein unglücklicher Zufall?«
»Falls sie es geplant hätte«, sagte Pitt und setzte sich unaufgefordert, »muss sie seiner außergewöhnlich sicher gewesen sein. Woher wollte sie wissen, dass er dort sein würde, bevor die Polizei kam, und dass er bereit sein würde, ihr beim Fortschaffen des Leichnams zu helfen? Hatte sie einen anderen Plan gehabt für den Fall, dass er Alarm geschlagen hätte, statt zu tun, was sie von ihm erwartete?«
Narraway verzog den Mund. Es sah aus wie eine Grimasse. »Ich würde mich nicht wundern, wenn sie selbst die Polizei gerufen oder ihren Diener damit beauftragt hätte. Sofern es sich um einen Racheakt wegen des Massakers handelt, war der Mann sicher an der Sache beteiligt.«
Mit finsterer Miene starrte er vor sich hin, als sähe er vor seinem inneren Auge ein Schreckensbild. »Vermutlich wird man diesen Zeugen am Montag vernehmen?«, fragte er, ohne Pitt anzublicken.
»Das nehme ich an«, sagte dieser. »Immerhin würde das den Beweis für einen vorbedachten Mord liefern.«
»Danach wird sie dann verhört und legt aller Welt ihre Gründe dar«, fuhr Narraway mit leiser, harter Stimme fort. »Die Zeitungen haben bestimmt nichts Besseres zu tun, als alles möglichst schnell zu drucken. Dann wird es nach wenigen
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