Die Frau aus Alexandria
Angst schlug. Er hatte Recht. Es wäre ganz einfach gewesen zu fragen, wer an der Tür war, und sie hatte nicht daran gedacht, weil sie mit ihren Gedanken bei Martin Garvie und anderen Menschen gewesen war, die man gegen ihren Willen in Bedlam eingesperrt hatte. Auch beschäftigte es sie, dass sie im Fall des Mannes, der im Garten dieser Ägypterin erschossen worden war, der Lösung noch keinen Schritt näher gekommen waren. Was mochte der da gewollt haben? Man schlich doch nicht mitten in der Nacht im Gebüsch herum!
Tellman trat ein. Er war bleich und wirkte angespannt.
»Jemand muss Ihnen sagen, was Sie tun sollen!«, sagte er und schloss die Tür mit Nachdruck. »Sie sind doch sonst immer so neunmalklug. Was haben Sie da?«
Sie legte das Messer auf den Küchentisch. »’n Tranchiermesser. Wonach sieht es Ihrer Ansicht nach denn aus?«, fuhr sie ihn an.
»Wie etwas, das Ihnen ein Einbrecher abnehmen und an die Kehle setzen würde«, sagte er. »Falls Sie Glück haben!«
»Sind Se gekomm’, um mir das zu sagen?«, gab sie zurück. »So blöd bin ich nich.«
»Natürlich bin ich nicht deshalb gekommen!« Er stand neben dem Tisch, offenbar zu angespannt, als dass er sich hätte setzen können. »Aber Sie sollten vernünftiger handeln.«
Hätte ein anderer das gesagt, sie hätte es leichthin abgetan, aber aus seinem Mund war ihr das sonderbar unerträglich. Er war ihr zugleich zu fern und zu nah. Ihr gefiel nicht, dass ihr das so nahe ging, weil es sie unsicher machte und in ihr Gefühle weckte, über die sie keine Herrschaft hatte. Daran war sie nicht gewöhnt.
»Kommandier’n Se mich nich rum, wie wenn ich Ihn’ gehör’n würde«, stieß sie hervor, bemüht, das starke Gefühl zu unterdrücken, das sie zu überfluten drohte. Es kam ihr beinahe wie eine Art Einsamkeit vor.
Einen Augenblick lang sah er sie verblüfft an, dann runzelte er leicht die Brauen. »Wollen Sie denn zu niemandem gehören, Gracie?« , fragte er.
Sie war wie vor den Kopf geschlagen. Dass er so etwas sagen würde, hätte sie als Letztes erwartet, und sie hatte keine Antwort darauf. Nein, das stimmte nicht – eine Antwort hatte sie schon, noch aber war sie nicht bereit, ihm das einzugestehen. Sie brauchte mehr Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Sie schluckte, öffnete den Mund, um das zu bestätigen, merkte dann aber hilflos, dass ihr das nicht möglich war. Es wäre eine Lüge. Wenn er ihr das glaubte, würde er sie womöglich nicht wieder fragen, vielleicht sogar fortgehen.
»Nun ...«, stotterte sie. »Nun ... ich ... ich glaub doch.« Sie hatte es gesagt!
Auch er holte tief Luft. Er empfand keine Unentschlossenheit, wohl aber befürchtete er, abgewiesen zu werden. »Dann wäre es das Beste, Sie würden mir gehören«, sagte er, »denn niemand möchte Sie mehr als ich.«
Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Der Augenblick der Entscheidung war da – jetzt oder nie! Ein wohliges Gefühl stieg in ihr auf, und es kam ihr vor, als glitte sie in herrlich warmes Wasser und schwebte schwerelos darin. Sie merkte nicht, dass sie stumm blieb.
»Sie sind zwar dickköpfig und eigensinnig und davon, wo Menschen hingehören, haben Sie die verrücktesten Vorstellungen, die ich je gehört habe«, fuhr er in der entstandenen Stille fort, »aber so wahr mir Gott helfe, es gibt keine andere, die ich wirklich möchte... Wenn Sie mich also nehmen wollen ...« Er hielt inne. »Erwarten Sie etwa, dass ich jetzt sage, ich liebe Sie? Schon möglich, dass Sie blöd sind, aber so blöd, dass Sie das nicht wissen, sind Sie nicht!«
»Se ha’m ja Recht«, sagte sie rasch. »Un ... un ...«
Das Mindeste, was er erwarten durfte, war, dass sie ihm eine ehrliche Antwort gab, wie schwer ihr das auch fallen mochte. »Ich liebe Sie auch, Samuel. Aber das is kein Grund, sich Freiheiten rauszunehmen, und es gibt Ihnen auch kein Recht, mir zu sagen, was ich tun soll un was nich.«
Auf sein hageres Gesicht legte sich ein breites Lächeln. »Sie werden tun, was ich Ihnen sage! Aber da ich in meinem Hause meine Ruhe haben möchte, werde ich Ihnen wohl nichts sagen, was Sie zu sehr aufbringen würde.«
»Gut.« Sie schluckte. »Dann is ja alles in Ordnung, wenn ... wenn es so weit is.« Sie schluckte erneut. »’ne Tasse Tee? Sie schein’ mir ja mächtig durchgefror’n zu sein.«
»Ja«, nahm er an, zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich. »Ja, gern, bitte.« Ihm war bewusst, dass es unklug wäre, sie jetzt nach dem richtigen
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