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Die Frau aus Alexandria

Die Frau aus Alexandria

Titel: Die Frau aus Alexandria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Verstand zu nutzen. Ganz offenkundig erwartete er, dass Pitt die Gesprächsführung übernahm.
    »Welchen Grund hätte es für sie gegeben, die Leiche wegzuschaffen, wenn sie mit dem Mord nichts zu tun hatte?«, fuhr Pitt fort. »Warum hat sie nicht die Polizei gerufen, wie das jeder normale Mensch tun würde?«
    Narraway sah ihn düster an und sagte mit rauer Stimme: »Weil es sich um eine gestellte Situation handelt und sie gefasst werden wollte. Möglicherweise hat sie selbst die Polizei gerufen. Ist Ihnen dieser Gedanke schon einmal gekommen?«
    »Warum sollte sie sich selbst belasten?«, fragte Pitt fassungslos.
    Narraways Gesicht war voll Bitterkeit. »Warten Sie ab, was sie in der Verhandlung sagt. Noch sind wir nicht so weit. Falls man Talbots Angaben trauen kann, hat sie dazu bisher kein Wort gesagt. Was aber ist, wenn sie aus lauter Verzweiflung eine Kehrtwendung macht und zögernd zugibt, dass Ryerson in einem Anfall von wilder Eifersucht den Nebenbuhler Lovat erschossen hat?« Mit beißendem Spott verfiel er in den kläglichen Tonfall, in dem sie seiner Annahme nach sprechen würde. »Sie habe versucht, die Sache unter der Decke zu halten - erstens aus Liebe zu ihm und zweitens wohl aus schlechtem Gewissen, weil sie ihn provoziert hatte und ihr sein aufbrausendes Wesen bekannt war. Jetzt aber könne sie keine Rücksicht mehr auf ihn nehmen, da sie die Sache nicht so weit treiben wolle, sich für ihn hängen zu lassen.« Sein Blick forderte Pitt auf, ihm zu beweisen, dass seine Vermutung falsch war.
    Pitt war wie vor den Kopf geschlagen. »Aber warum denn nur?«, fragte er. Kaum aber hatte er das gesagt, als sich entsetzliche Möglichkeiten vor seinem inneren Auge abzeichneten - persönliche, politische, gewalttätige.
    Narraway warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Sie kommt aus Ägypten. Da fällt einem doch als Allererstes Baumwolle ein. In Manchester hat es wegen der Preise bereits großen Ärger gegeben. England will niedrigere, Ägypten höhere. Als uns wegen des Bürgerkriegs in Amerika die Lieferungen aus den Südstaaten fehlten und wir auf die Ägypter angewiesen waren, hat sich das Marktgleichgewicht verschoben. Inzwischen hat die Baumwollindustrie auf dem europäischen Kontinent aufgeholt, und wir brauchen
unsere Kolonien nicht nur als Lieferanten, sondern sind auf sie auch als Märkte angewiesen.«
    Pitt runzelte die Stirn. »Kaufen wir nicht sowieso schon den größten Teil der ägyptischen Baumwolle?«
    »So ist es!«, sagte Narraway ungeduldig. »Aber ein Geschäft, bei dem eine Seite nicht auf ihre Kosten kommt, nützt letzten Endes keiner von beiden, weil daraus keine dauerhafte Handelsbeziehung entstehen kann. Ryerson ist einer der wenigen, die nicht nur die nächsten Jahre sehen, sondern den Blick etwas weiter in die Zukunft richten und zugleich fähig sind, eine Abmachung zu erzielen, bei der sowohl Ägypten als Baumwollerzeuger als auch die britische weiterverarbeitende Industrie den Eindruck haben, gut abgeschnitten zu haben.« Seine Züge waren jetzt angespannt. »Davon abgesehen, darf man den ägyptischen Nationalismus nicht aus den Augen verlieren. Es ist keine zwanzig Jahre her, dass wir anno 82 Alexandria zusammengeschossen haben – da wollen wir doch um Gottes willen nicht schon wieder Kanonenboote dahin in Bewegung setzen müssen!« Pitt zuckte zusammen, doch Narraway, der davon nichts zu merken schien, fuhr fort: »Außerdem ist auch die Frage der religiösen Eiferer zu bedenken. Ich muss Sie ja wohl kaum an den Aufstand im Sudan erinnern?«
    Pitt sagte nichts darauf. Schließlich war es allgemein bekannt, dass 1883 Khartoum belagert und General Gordon ermordet worden war.
    »Und natürlich Motive wie persönliches Gewinnstreben oder Hass auf Mitmenschen oder das andere Geschlecht«, ergänzte Narraway.
    »Wir müssen also unbedingt die Wahrheit erfahren, bevor es zur Verhandlung kommt«, schloss Pitt. »Auch wenn ich nicht weiß, ob das helfen würde.«
    »Es ist Ihre Sache, dafür zu sorgen!«, stieß Narraway mit belegter Stimme zwischen den Zähnen hervor. Unübersehbar bewegten ihn ganz eigene Empfindungen. »Sollte es zu einem Schuldspruch gegen Ryerson kommen, müsste ihn die Regierung entweder durch Howlett oder durch Maberley ersetzen. Howlett würde den englischen
Fabrikarbeitern nachgeben und die Preise für Rohbaumwolle so weit drücken, dass es den Ägyptern die Luft abschnürt. Zwar gäbe es dann bei uns ein paar Jahre des Wohlstandes, am Ende aber würden

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