Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau aus dem Meer

Die Frau aus dem Meer

Titel: Die Frau aus dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
Vom Netzwerk:
halbem Weg hinauf stehen geblieben. Er vergoss so viel Licht, dass man die Ameisen sehen konnte, wie sie eilig zu dem Stück Fleisch krabbelten, das Grò dort hatte liegenlassen. Spaßeshalber fing er an, sie zu zählen. Eine, zwei, drei …
    Geweckt wurde er durch das wilde Gebell von Aulissis Hund.
    «Mach dich fort! Weg mit dir! Nun verschwinde schon!», rief Donna Pina vom Weg her. «Gnazio! Ruft doch mal den verdammten Hund zu Euch!»
    Doch der Hund stand da, das Fell gesträubt, und fletschte die Zähne. Er wollte Donna Pina einfach nicht durchlassen.
    «Grò! Komm her!»
    Doch nichts geschah, der Hund hörte ihn nicht einmal.
    Da bückte sich Gnazio, nahm einen Stein in die Hand und warf ihn auf Grò. Am Bauch getroffen, jaulte das Tier auf und lief davon.
    «Und Maruzza?», fragte Gnazio.
    «Sie kommt gleich», antwortete Donna Pina.
    «Und Minica?»
    «Die ist bei Maruzza.»
    «Aber wo sind sie nur?»
    «Mein Gott, was für eine Eile! Habt doch Geduld!»
    Sie stellte die beiden Säcke, die sie auf den Schultern trug, auf dem Boden ab.
    «Warum habt Ihr zwei Säcke dabei?»
    «Einer gehört Maruzza. Da sind ihre Sachen drin. Ich bin völlig erschöpft. Gebt mir doch ein Gläschen Wein und nehmt Euch selbst auch eins! Die Nacht, die Euch erwartet, ist lang.»
    Was sollte das heißen? Dass die von Minica gewollte Hochzeit sich länger hinziehen würde?
    Doch es war sinnlos, sich Fragen zu stellen. Gnazio ging ins Haus und kehrte mit einem Weinkrug und vier Gläsern zurück. Sie begannen zu trinken.
    «Gibt’s auf Eurem Stück Land auch Mohnblumen?», fragte die Alte.
    «Ja, wenn die Zeit gekommen ist.»
    «Bei mir in der Gegend wachsen sie nicht. Wenn Ihr es mir erlaubt, komme ich mir welche pflücken, wenn es so weit ist.»
    «Wozu braucht Ihr denn Mohnblumen?»
    «Um denen, die nicht schlafen können, den Schlaf zu bringen.»
    «Donna Pina, wie kommt es, dass Ihr Euch mit Blumen und Kräutern so gut auskennt?»
    «Das hat mir meine Mutter beigebracht.»
    «Und wer hat’s Eurer Mutter beigebracht?»
    «Meine Großmutter. Und meine Großmutter hat’s von ihrer Mutter gelernt. Und der Allerersten von allen, deren Spur sich im Dunkel der Zeit verliert, hat’s der liebe Herrgott persönlich beigebracht.»
    «Ist das so?»
    «Gebt mir noch ein Gläschen, und ich erzähle Euch, wie’s war. Eines Tages fanden sich alle Pflanzen und Blumen vor dem Ewigen ein und sprachen: ‹Herr der Welten, du hast uns die Macht gegeben, alle Krankheiten des Menschen zu heilen. Nur dass die Menschen diese unsere Macht nicht kennen. Warum offenbarst du’s ihnen nicht? Auf diese Weise leiden deine armen Geschöpfe auf Erden doch weniger und werden nicht mehr elendig zugrunde gehen.› Der Ewige antwortete darauf: ‹Wenn die Menschen auf der Erde nicht mehr sterben, werden sie in kürzester Zeit unzählig viele sein, und nur um Platz zu haben, wären sie gezwungen, einander gegenseitig umzubringen. Und mir gefällt es nicht, wenn sie sich umbringen.› Da sagten die Pflanzen und Blumen: ‹Aber können sie denn nicht sterben, ohne die Qualen der Krankheiten ertragen zu müssen?› Und der Ewige erwiderte: ‹Machen wir’s so: Ich verrate einer kleinen Anzahl alter Weiblein, wie sie die Menschen mit Pflanzen heilen können. Diejenigen, die sich an diese alten Weiblein wenden, werden von ihren Krankheiten gesunden. Und die anderen sollen sehen, wie sie zurechtkommen.› Und das war die ganze Geschichte. Gebt Ihr mir noch ein Gläschen? Und trinkt doch selber auch noch eins!»
    Sie tranken ein weiteres Mal, doch Gnazio fing an, unruhig zu werden.
    «Wann kommen Maruzza und Minica denn bloß?»
    «Geduldet Euch noch, Gnazio! Sie sind zum Meer gegangen.»
    «Zum Meer? Was wollen sie denn da?»
    «Maruzza wollte sich gründlich waschen.»
    Musste sie deshalb gleich zum Meer gehen, um sich zu waschen?
    «Im Haus ist doch alles Wasser der Welt!», sagte er.
    «Gnazio, hört mir zu! Ich habe deutlich mit Euch gesprochen, ich habe Euch vom ersten Tag an gesagt: Wenn Ihr mit Maruzza einig werden wollt, müsst Ihr sie tun lassen, was sie tun will. Habe ich Euch das gesagt oder nicht?»
    «Na ja, um der Wahrheit willen muss ich sagen, dass Minica mir das gesagt hat.»
    «Es hat doch überhaupt keine Bedeutung, wer Euch das gesagt hat. Wichtig ist nur, dass Ihr es wisst.»
    Mit einem Mal sah Gnazio vom Weg her einen Geist herannahen, mit einem weißen Laken angetan, wie Geister sich eben gewanden. Und hinter ihm folgte ein kurzer Schatten

Weitere Kostenlose Bücher