Die Frau aus dem Meer
Kraft, dass sie einen Eisenstein mit den Fingern spalten kann. Habt Ihr wohl eine Schüssel?»
«Oben steht eine Waschschüssel. Warum?»
«Minica braucht sie.»
Als er mit den beiden Weinkrügen wieder hinaustrat, saß Maruzza immer noch da. Die Urgroßmutter hatte ihren Krug genommen und auf den Tisch gestellt. Er bemerkte, dass Gròs Kadaver an derselben Stelle lag, wo am Vormittag Aulissi gestorben war.
Donna Pina kam mit der Schüssel in den Händen zurück.
Da zog Minica eine winzig kleine Schachtel aus der Rocktasche, nahm ihren Krug und leerte ihn ganz in die Schüssel. Es war Meerwasser. Sie öffnete die Schachtel, holte zwei goldene Ringlein hervor und legte sie ins Wasser.
«Steh auf und komm her!», sagte sie zu Maruzza.
Die junge Frau schlief immer noch halb, gehorchte aber und stellte sich links neben Donna Pina.
«Und Ihr stellt Euch auf die andere Seite!», sagte sie zu Gnazio.
Gnazio, der mittlerweile vom vielen Wein und von all den Merkwürdigkeiten, die er gehört und gesehen hatte, ganz trunken war, stellte sich rechts von Donna Pina hin.
Die Urgroßmutter nahm ihre Stola ab, warf sie auf die Erde und löste ihr Haar.
Es reichte ihr bis zu den Füßen und war weiß wie Schnee. Da tauchte Minica ihre Hand ins Wasser und sprach Worte, die Gnazio nicht verstand. Doch so, wie sie klangen, schien es ihm dieselbe Sprache zu sein, die Aulissi vor seinem Tod gesprochen hatte.
«τοῖσιν Ѵεοὶ ὄλβια δοῖεν ζωέμεναι …» [2] , fuhr Minica fort.
Sie kniete nieder und beugte die Stirn so tief hinunter, dass sie die Erde berührte.
«Πόσειδον! Πόσειδον!»
Sie stand auf. Und an Maruzza gewandt, sagte sie:
«ΠρόσѴεν μὲν γὰρ δή μοι ἀεικέλιος δέατ’ εἶναι, νῦν δὲ Ѵεοῖσιν ἔοικε!» [3]
Sie lachte allein für sich. Dann fragte sie die junge Frau:
«Willst du ihn zum Manne nehmen?»
Und als würde Maruzza aufwachen, erwiderte sie lächelnd:
«Αἲ γὰρ ἐμοὶ τοιόσδε πόσις κεκλημένος εἴη ἐνѴάδε ναιετάων, καί οἱ ἅδοι αὐτόѴι μίμνειν!» [4]
Inzwischen fragte sich Gnazio nicht mehr, in was für einer Sprache die beiden Frauen miteinander redeten. Und eigentlich begriff er von dem, was da vor sich ging, auch gar nichts mehr, zu viel Wein hatte er ganz gegen seine Gewohnheit getrunken, zu viele Emotionen, zu viele Neuigkeiten waren auf ihn eingestürmt. Die Augen fielen ihm zu. Was hatte Maruzza der Alten geantwortet? Nahm sie ihn, oder nahm sie ihn nicht?
Minica wandte sich an ihn.
«Und, wollt Ihr Maruzza zur Frau nehmen?»
«Aber gewiss!»
«Also dann …», sagte Minica. «Dann haltet Eure Hände über die Schüssel.»
Sie nahm das Meerwasser und die beiden Ringlein, steckte eines an den kleinen Finger von Maruzza und den anderen an den Zeigefinger von Gnazio.
«Und so ist es geschehen. Ihr seid jetzt Mann und Frau.»
Gnazio erinnerte sich eines amerikanischen Brauchs.
«Dürfen wir Maruzza jetzt küssen?»
«Nachher», antwortete die Urgroßmutter. «Die Hochzeit ist noch nicht zu Ende. Ihr, Donna Pina, leert die Schüssel aus und lasst sie auf dem Tisch stehen. Danach geht und holt einen Hahn.»
Kaum hatte sich Donna Pina in Bewegung gesetzt, drehte Gnazio den Kopf in Maruzzas Richtung.
«Nicht! Halt!», schimpfte Minica sofort los. «Sieht Er die Braut zur unzeit’gen Stund’,/wird sie entweder krank, oder im Bett geht nichts rund.»
Gnazio erstarrte.
Die Urgroßmutter holte aus Donna Pinas Tasche ein großes Schlachtermesser und einen Granatapfel, den sie in zwei Hälften zerteilte. Dann schälte sie jeden Granatapfelkern einzeln in die Schüssel.
Einen panisch mit den Flügeln schlagenden Hahn an beiden Scharrfüßen haltend, kehrte Donna Pina zurück. Sie reichte das Tier der Urgroßmutter, die es mit der linken Hand packte und ihm mit der rechten mit einem einzigen Messerhieb den Kopf abtrennte. Minica ließ ein wenig Hahnenblut in die Schüssel tropfen, in der bereits die Granatapfelkerne lagen, und trank anschließend einen halben Krug Wein. Donna Pina hielt ihr ein Fläschlein hin, und auch dieses leerte Minica in die Schüssel. Danach rührte sie das Gemisch mit den Fingern durch, füllte zwei Gläser und reichte eines Maruzza und eines Gnazio.
«Trinket und esset!»
Und während die beiden tranken und aßen, hub Minica mit einer Litanei an, auf welche Donna Pina ihr mit einem Gegenspruch
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