Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
erleuchtet, »zu unserer großen Überraschung strahlten die Laternen – etwas, das in Belgien seit 1940 verboten war«.
Neusalz am deutschen Strom
Sie waren im Frühsommer in Antwerpen aufgebrochen, als sie in Neusalz an der Oder eintreffen, ist es Ende August, Anfang September. Renée erinnerte sich nicht mehr an das genaue Datum ihrer Ankunft.
Jupp ist im Konvoi der Trucks gefahren und bereits da. »Als wir am Morgen in Neusalz ankamen, mussten wir aus dem Zug raus. Jupp war draußen, ich war draußen. Doch mit einem Mal fuhr der Zug an und Ady stand drinnen am Fenster! Der Zug fuhr schon schneller, sie öffnete das Fenster und warf noch etwas heraus, das waren vier Pferdedecken, aber die waren gar nicht von uns. Aber ihr Antlitz, als der Zug abfuhr, so voller Schrecken!« Renée lachte in ihrem Wohnzimmer in Antwerpen, als sähe sie das verdutzte Gesicht von Ady noch immer vor sich.
Jupp ruft Ady noch etwas zu, er gestikuliert und bedeutet ihr ruhig zu bleiben, dann rennt er weg. Und der Zug dampft erbarmungslos aus dem Bahnhof. Ady ist auf sich allein gestellt. Was soll sie jetzt tun? Hat sie Jupp richtig verstanden? Sie soll an der nächsten Stationaussteigen – aber welche nächste Station? Und kommt sie von dort zurück nach Neusalz? Wann wird der nächste Zug zurückfahren? Die Unwägbarkeiten der Eisenbahn hat sie in den letzten Wochen kennengelernt. Was, wenn kein Zug fährt? Kommt Jupp sie dann holen? Sicher wird er das tun, aber nur, wenn er weg kann.
Furcht und Panik wechseln sich bei Ady mit der Ermahnung ab, ruhig zu bleiben, es wird schon alles gut werden.
»Jupp ist zum Bahnhofsvorstand gegangen und hat ihm gesagt, ›sie muss an der nächsten Station aussteigen!‹ Das haben die gemacht und Ady ist mit einem Zug, der nach Cottbus zurückfuhr, wieder zurückgekommen.«
Renée hat ihren Bestimmungsort erreicht und muss sehen, was als Nächstes zu tun und zu organisieren ist. Der Geschichte mit Ady musste sie keine größere Bedeutung mehr beimessen. Für sie war nun Jupp zuständig, er würde sich um sie kümmern. »Zuerst wurden wir in neu errichteten Gebäuden untergebracht, es waren Baracken aus Stein, nicht aus Holz. Ich mochte sie nicht, Ady ebenso wenig.« Aber noch war Ady nicht da.
Es dauert Stunden, bis Ady endlich in Neusalz ankommt. Jupp steht tatsächlich wieder am Bahnsteig und nimmt sie in Empfang. Ady ist aufgelöst, erschöpft, den Tränen nah.
Dies wird einer der Momente gewesen sein, in denen Jupp endgültig zu Adys Beschützer wurde. Ruhig, besonnen und fürsorglich – so wird er ab jetzt für sie da sein.
Ady war glücklich, als sie endlich in den Armen von Jupp festen Boden unter den Füßen hatte. Wer wäre das nicht, nach einer wochenlangen Odyssee quer durch ein Land im Daueralarm und mit der Krönung eines verpassten Ausstiegs am Zielbahnhof. Dabei tat Ady etwas, das eigentlich nicht zu ihr zu passen schien: Als sie feststellte, dass der Zug wieder losfuhr, sah sie sich im Abteil um, packte die Decken und warf sie kurzerhand aus dem Fenster. Sie war nicht nur die Passive – als die sie auch in den Erinnerungen von Renée erschien. Sie war zwar klein, schutzbedürftig, aber sie konnte zupacken, sie war zäh, sie griff sich die Decken – die halten warm, taugen als weiche Unterlage genauso wie als Material, um etwas einzupacken oder als Vorhang. Ady ergriff die Gelegenheit beim Schopf, und das wird sie wieder tun.
Nun also waren sie an der Oder. Dahinter kam nur noch das Generalgouvernement und Polen, oder wie die Nazis das sahen, die Weiten Asiens. Davon trennte sie der Fluss. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte die Oder ihre Unschuld als Wirtschaftsstrom und Ausflugsziel verloren. Nach dem Ersten Weltkrieg – Polen hatte wieder einen Platz in der Geschichte und auf der europäischen Landkarte gefunden – wurde er mit dem Friedensschluss von Versailles zum »internationalisierten Fluss« und, obwohl längst nicht Grenzfluss, so doch zur gefühlten Grenze zwischen Deutschland und Polen. Für Nationalisten und Militaristen von »Stahlhelm« und »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold« wurde der »slawische Osten« zum ideologischen Kampfbegriff und die Oder zum Symbol der Grenze, zum »Fluss des deutschen Ostens« und »Träger des deutschen Geistes«.
Die Städte entlang der Oder mutierten zu schwer bewaffneten Brückenköpfen, und an den Ufern entstanden in den zwanziger Jahren die kilometerlangen Bunkeranlagen und Schützengräben der »Pommernstellung« im Norden,
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