Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
dem »Ostwall« am Oder-Warthe-Bogen und der »Oderstellung« im Süden.
Es galt, die »urgermanische Geisteswelt der schlesischen Stammeskultur« gegen den »slawischen Osten« zu verteidigen, der »allzeit drohend im Hintergrund« stand.
Die Nazis hatten die Regionen östlich der Oder zum zu erobernden Lebensraum erklärt, und die Wehrmacht war weit nach Osten eingedrungen. Längst hatte ihr Rückzug begonnen, doch die Gegend um Neusalz schien noch sicher genug, einen Front-Reparaturbetrieb für Flugzeugmotoren hierher umzusiedeln.
Bei Neusalz mäandert die Oder träge von Süden kommend in lässigen Schleifen an der Stadt vorbei. An einem frühen Morgen sind Willy und sein Harem endlich am Ziel. Sie waren etwa drei Monate unterwegs. Mit allen Umwegen haben sie gute 1500 Kilometer in zahlreichen Zügen zurückgelegt.
»Wir waren zu zehnt in einem Raum. Mit den vielen Decken habe ich eine Abscheidung gemacht. Ich bin überall hin und habe Nägel und einen Hammer gesucht. Zum Schluss habe ich es mit meinem Schuh gemacht. So waren wir ein bisschen separat.«
Es ist sommerlich, doch in der Stadt herrscht eine eigentümliche, betriebsame Stimmung. Laster rollen schwer beladen durchdie Straßen, der Geruch nach erhitztem Metall liegt in der Luft. Aber viele Einwohner haben das Städtchen bereits verlassen, ihre Wohnungen stehen leer. Die Menschen haben der Propaganda nicht mehr glauben wollen, die Wehrmacht würde den Vormarsch der sowjetischen Divisionen aufhalten können. Andere bereiten sich auf ihren Aufbruch vor. In den nächsten Monaten wird sich die Stadt ständig weiter leeren.
Am 14. Oktober 1944 erhält Ady ihre Aufenthaltsbescheinigung für Neusalz: Unterkunft bei Dubbe, Berliner Straße 65.
In die verfügbaren Wohnungen werden Arbeitskräfte von außerhalb einquartiert, auch die von Daimler. Willy Esmajor kann zusammen mit Käthe eine Etagenwohnung beziehen, und Jupp gelingt es ebenfalls nach einiger Zeit, eine Wohnung für sich und Ady zu besorgen. Der Herbst naht und Ady hatte Angst gehabt, den Winter in der Baracke verbringen zu müssen. Die Wohnung unterm Dach ist kaum mehr als ein Zimmer mit einer Kochgelegenheit, einem Waschbecken und einem Ofen. Sie liegt in der Berliner Straße 65 und wird Adys und Jupps erstes gemeinsames Zuhause. Die Vermieter heißen Dubbe.
An die Vermieter mit Namen Dubbe kann sich Renée nicht erinnern, wohl aber daran, dass sie selbst froh war, nach einer Zeit ebenfalls die Baracke verlassen zu können und das Zimmer neben Ady und Jupp zu bekommen.
Renée hat nicht so viel Glück mit ihrer Vermieterin, sie ist »eine schlechte Dame«. Die Leute in Neusalz waren überhaupt eher nicht so Renées Fall, »die waren mehrheitlich unlustig bis unfreundlich. Ja die Leute sind da stur. Ich weiß nicht, ob die da geboren waren, ob sie das da bevölkern mussten.«
Renée schrieb in ihrer kurzen Biografie während eines Antwerpener Englisch-Sprachkurses für Senioren über Neusalz:
Hübsche kleine Stadt am Ufer der Oder, aber mit einer großen Fabrik, wo Munition hergestellt wurde. Die Arbeiter hatten die verschiedensten Nationalitäten – die meisten waren Kriegsgefangene, die am anderen Ende der Stadt in Baracken wohnten, die scharf bewacht waren. Die Einwohner der Stadt waren sehr ernsthafte Leute, die selten lachten, das war nicht so unser Fall.
Renées erster Arbeitstag in Neusalz ist der 4. September 1944, ihr Arbeitgeber nennt sich nun F. R. B. 10 GmbH in Neusalz/Oder. Adys Arbeitsbeginn wird vermutlich ebenfalls am 4.9. gewesen sein, in ihren Papieren ist der Betrieb identisch.
Am gleichen Tag marschieren 900 Kilometer weiter westlich die ersten britischen Soldaten unter dem Jubel der Einwohner in Antwerpen ein. Davon aber erfahren die Frauen erst einmal nichts.
Der Reparaturbetrieb hat in der ersten Woche für die Frauen nichts zu tun, »sie mussten erst noch alles in Ordnung bringen«, wie sich Renée erinnert. Renée organisiert sich ein Fahrrad, erkundet das Städtchen. Die Hauptstraße hinauf, die Berliner Straße, die die Stadt von Süden nach Norden durchquert, ein Stück hinauf Richtung Kusser am südlichen Ende, an der »Alten Hütte« vorbei und durch die Oderniederung zurück. Manchmal radelt sie durch die engen Straßen der Innenstadt zwischen Bahnhof, »Neuer-Hütte« und Getreide-Markt. Dort soll sie eigentlich schon arbeiten. Bei schlechtem Wetter fährt sie in die Bibliothek oder ins Stadtbad, beischönem hinaus zur Flussbadeanstalt, die gleich neben
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