Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
fragte Renée in Antwerpen, ob das für sie nicht beunruhigend war, nicht zu wissen, wohin sie kommen würden oder was sie erwartete. Und Renée antwortete entwaffnend: »Wir hatten Willy!«
Willy Esmajor muss ein angenehmer Mensch gewesen sein, mit ihm und auch seiner Frau Käthe blieb Renée über viele Jahrzehnte befreundet. Auch Ady wurde stets über Veränderungen in der Familie Esmajor auf dem Laufenden gehalten. Erst vor wenigen Jahren hörte der Kontakt auf.
Wie muss es sich – trotz der beruhigenden Anwesenheit von Willy Esmajor – angefühlt haben, weder zu wissen, wann man wo sein würde, noch letztlich das Reiseziel zu kennen? Heute überlassen wir uns bisweilen bewusst diesem Gefühl, suchen den Zen-Bitzel, wollen uns an unserem eigenen Entspannungsvermögen messen und sind stolz, wenn es uns gelingt, uns treiben zu lassen, ohne Ziel, entspannt im Hier und Jetzt.
Die Frauen durchlebten den Zustand gezwungenermaßen. Sie wurden in Züge gesetzt, aus anderen geholt, wechselten die Richtung, weil Strecken bombardiert und außer Funktion waren, wurden hierhin und dorthin geschickt, warteten auf freier Strecke oder an Bahnhöfen in Städten, von denen sie zuvor nie gehört hatten, auf die Weiterfahrt.
Für die patente Renée war dieser schwebende Zustand zwischen Fahren und Halten, sich nach einem unbekannten Plan zu richten und scheinbar ziellos zu reisen verkraftbar, sie war jung und unternehmungslustig und mag den Unwägbarkeiten schon damals nach der Devise begegnet sein: Lebe jetzt und mache das Beste daraus.
Ady jedoch, die ängstlichere, die weniger zu solcher Haltung befähigte, die von äußeren Umständen viel stärker abhängige, für sie ist es notwendiger denn je, in ihrer Begleitung Unterstützung zu finden, sich anderen überantworten zu können. Will oder soll sie für sich selbst entscheiden und ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, muss sie schier verzweifeln. Gut, dass sie in der Gruppe aufgehoben ist.
Renée hat einen guten Sinn für Witze und erzählt sie noch immer, in ihrem vorgerückten Alter, mit gut gesetzter Pointe. Sie haben sich damals auch unterwegs Witze erzählt, heimlich und in ihrer Sprache, haben gelacht. Sie waren zwar keine durch und durch homogene Gruppe, aber die Stimmung sei dennoch gut gewesen, sagt Renée. Ob sie damals auch Flüsterwitze kannten, welche wie diesen, der ihnen Schauer den Rücken hinuntergejagt haben mag? Hofften sie doch inständig, an Weihnachten zuhause bei ihren Familien zu sein. »Wie sieht Weihnachten 1944 aus? – Es regnet Christbäume vom Himmel, die Flak liefert Kugeln, Goebbels erzählt Märchen, das deutsche Volk zündet Kerzen im Keller an und erwartet die Bescherung von oben.«
Ihre nächste Station soll Berlin sein, die Hauptstadt und der Sitz von zwei großen Werken für Flugzeugmotoren im unmittelbaren Umland. Wieder ging es im Personenzug weiter, aber »wir hatten nur fünf Sitzplätze für uns, also durfte jede von uns immer nur eine Stunde sitzen, dann wurde gewechselt.« Die, die sitzen durfte, döste vor sich hin, sie plauderten, erzählten von zuhause und starrten stundenlang in die sich verändernde Landschaft. Tagsüber hielt der Zug oft an, es ging nur langsam vorwärts, aus Angst vor Luftangriffen. Nachts fuhr er schneller. Sie wussten nicht, wo sie waren, welche Städte oder Orte sie gerade passierten. Renée scheint es heute so, als ob die Ortsschilder allesamt nicht lesbar gewesen wären. Anhand von Erinnerungsbruchstücken und durch Adys Liste lässt sich rekonstruieren, dass sie über Thüringen und Leipzig nach Berlin fuhren.
Neusalz von der Oderbrücke aus gesehen.
Dort wurden sie erneut eine Zeit lang in Baracken untergebracht.
Irgendwann unterwegs erfahren sie, dass auch Berlin nicht ihr letztes Ziel sein wird, sondern Neusalz, eine Stadt an der Oder in Niederschlesien.
Und wieder mussten sie weiter. Der Tross aus dem Front-Reparaturbetrieb von Daimler-Benz bewegte sich unaufhörlich in Richtung Osten, dahin, wo binnen weniger Monate die Rote Armee stehen würde. Aber das ist der Blickwinkel von heute. Damals muss es den reisenden Frauen erschienen sein, als ob sich das Reich unermesslich weit nach Osten erstreckt und sie waren da irgendwo mittendrin.
Schließlich kam Breslau und dort erlebten sie am späten Abend eine Überraschung. Überall war es dunkel gewesen, wenn der Zug einmal stoppte. Deutschland um diese Zeit war Dunkelland. Sie erreichten Breslau am Abend und die Stadt war hell
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