Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
der Werft und in Rufnähe zum Hafen liegt.
Neusalz war im Vergleich zu Antwerpen ein Nest: Ein paar Straßen in die eine, ein paar in die andere Richtung, das wars. 1939 verzeichneten die Volkszähler gerade mal 17 113 Einwohner.
Die Bahnhofstraße am Schmuckplatz, noch mit Denkmal für die Helden des Ersten Weltkriegs.
Trotz der geringen Größe war Neusalz das bedeutendste Industriezentrum im Norden Schlesiens. Mitten in der Stadt standen auf einem riesigen Firmengelände die Gebäude der »Gruschwitz Textilwerke AG«, die Garne und Zwirne aus Baumwolle und Flachs herstellte, mit Beteiligungen an mehreren Nähfaden- und Leinenwebereien im ganzen Reich. Ihr Markenzeichen, der Zwirn auf grüner Sternkarte, fehlte in kaum einem Nähkästchen in deutschen Haushalten. Der ›Diercke-Atlas‹ von 1969, in dem das heutige Nowa Sól noch immer Neusalz heißt und der westliche Teil Polens standhaft »unter polnischer Verwaltung« blieb, weist die Gegend westlich der Oder als Region für Leinen- und Wollindustrie aus.
Daneben gab es eine vielfältige Industrie: eine Möbel-, eineLeimfabrik, Betriebe für Kartonagen und Dachpappen. Mit den im Schlachthof anfallenden Schweineborsten machten drei Borstenzurichtereien gute Geschäfte und exportierten Bürsten, Pinsel und Borstenbüschel bis nach Übersee. Zwei Eisenhütten und Emaillierwerke fertigten Heizöfen und Kochgeschirre, Gebrauchsgegenstände für den ländlichen und städtischen Haushalt, Ofenverzierungen und Medaillen und preiswerte Geschenkartikel. Den Rohstoff lieferten phosphorhaltige Raseneisenstein-Vorkommen in der Umgebung.
»Schornstein reihte sich bald an Schornstein, und die überall emporsteigenden Rauchfahnen erzählten den Schiffern, die auf ihren Kähnen vorüberglitten, und den Reisenden, die auf der neu erbauten Eisenbahnstrecke vorbeifuhren, vom Gewerbefleiß der Neusalzer Einwohner.« Der Stolz auf das einst Geschaffene ist nicht überhörbar – auch deshalb, weil Friedrich Eckert, der Autor des Bandes ›Das war der Kreis Freystadt‹ nicht nur Vergangenes beschreibt, sondern mit der Wehmut der Ehemaligen unwiderruflich Verlorenes beschwört.
Tausende Arbeiter aus der Stadt und der Umgebung hatten Arbeit in den verschiedenen Betrieben. Bei den Reichstagswahlen im März 1933 hielten sich die Anhänger der Braunen und der Roten ungefähr die Waage. 11 000 Neusalzer Stimmberechtigte gaben ihre Stimme ab, davon wählten 4930 die NSDAP, 3100 die SPD, der Rest entfiel auf Zentrum, KPD, Kampffront Schwarz-Weiß-Rot und andere. Bald war politische Vielfalt nicht mehr gefragt, die Roten, die nicht hatten klein beigeben wollen, saßen im Lager oder in Gefängnissen oder standen als Kanonenfutter an den ungemütlichsten Orten der Fronten.
Für die Kinder gab es neben den Volksschulen ein Reformrealgymnasium, eine Höhere Mädchenschule der Herrnhuter Brüdergemeinde, Berufsschule, Sonderschule. Die meisten Gläubigen in der Gegend waren evangelisch, nur wenige katholisch – auch darin unterschied sich Neusalz von Antwerpen –, 63 sonstige Christen lebten in der Stadt und man zählte 1939 noch neun Juden.
Die dürften 1944, als Ady und Renée nach Neusalz kamen, kaum noch in der Stadt gewesen sein.
Rüstungsschmiede mit Arbeitslagern
Nach einer Weile waren die Büros von Renée und Ady eingerichtet. Die Frauen arbeiteten in der Nähe des Bahnhofs, mitten in der Stadt. »Der Name Daimler-Benz ist geblieben, nur benutzten sie die leer stehenden Gebäude von anderen Firmen. Als Büro diente ein Wohnhaus in der Bahnhofstraße, das angemietet war. Ein paar Häuser weiter, Richtung Bahnhof, war in einem anderen Haus das Sekretariat. Die Hallen für die Reparatur waren weiter draußen, in der Breslauer Straße.«
Renées Arbeitskarte mit der Angabe ihrer Arbeitsstelle: Getreidehallen F.R.B. 10, Neusalz/Oder.
Sowohl in Renées als auch in Adys Papieren wird der Name »Getreidehallen« im Zusammenhang mit der F. R. B. 10 GmbH erwähnt. In einem von Adys Dokumenten wurde das Wort »Getreidehallen« gestrichen. In der Bahnhofstraße, Ecke Breslauer Straße direkt am Markt in Neusalz, verzeichnet der Stadtplan von 1939 den städtischen Getreidemarkt. Daimler ist offensichtlich in dessen Gebäude eingezogen.
Dort haben Ady und Renée das Gleiche zu tun wie in Antwerpen: Sie arbeiten in den verschiedenen Büros und erledigen den Papierkram für die Werkhallen. Renée trägt wieder wie zuvor akribisch die Daten der reparierten Teile in die Handakten der
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