Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
einem Ort aufhalten. Wer die Möglichkeit hatte, verließ das Stadtgebiet. Antwerpen wurde zu einer düsteren und halb verlassenen Stadt. Wer blieb, fühlte sich inmitten der zerstörten Häuser in dem schweren kalten Winterwetter abgeschnitten von der Welt.
Auch Renées Familie, Mutter und Bruder, und Maria werden daran gedacht haben, die Stadt zu verlassen. Aber so einfach war das nicht, wo sollte man hin? Im Norden standen die Deutschen, im Süden und im Osten wurde immer noch gekämpft. Und die nähere Umgebung von Antwerpen lag ebenfalls unter dem Beschuss der Raketen und Bomben.
Im Dezember 1944 trafen durchschnittlich etwa vier Fernwaffen Antwerpen, bis Ende Januar, Anfang Februar 1945 steigerte sichder Beschuss auf bis zu 26 Treffer pro Tag. Mehrere Male schlugen Raketen in Borgerhout oder Berchem ein, nur wenige Straßen vom Haus Marias in der Zonnewijzerstraat entfernt, Ady erfährt davon nichts. Gut auch, dass Renée nichts von den Raketen wusste. Auf Ekeren-Donk, wo ihre Mutter lebte, gingen allein sechzig V2 runter, Sint Job wurde getroffen, wo Ady so unbeschwerte Sommertage mit Gus-Suske-Jefke verlebt hat, ebenso Brasschaat, wo ihr Freund damals als Soldat stationiert war. Anfangs war besonders der für den alliierten Nachschub wichtige Hafen das Ziel der Fernwaffen. Antwerpen zählte schließlich 175 Tage, an denen Bomben auf die Stadt niederfielen. Glücklicherweise erreichten nur etwa ein Viertel der Flugkörper ihr Ziel, die anderen versagten wegen technischer Defekte oder wurden abgeschossen. Doch die, die einschlugen, waren verheerend. Mortsel trafen 41, Wilrijk, wo Ady zuletzt arbeitete, 65, Deurne mit dem Flughafen 68 der V2-Raketen. Jedes Mal wurden Dutzende Menschen getötet, Hunderte verletzt.
Mehr als 30 000 Flugbomben V1 hat das Deutsche Reich in den beiden letzten Kriegsjahren produziert. In England und Belgien wurden durch die V1 über 15 000 Menschen getötet. Trotz allem blieb die V1 die einzige Waffe weltweit, deren Herstellung mehr Menschenleben kostete – im KZ Dora-Mittelbau – als ihr späterer Einsatz.
Weihnachten 45, Grand Marnier und Sehnsucht nach zuhause
Die Front rückt näher, im Dezember verlassen immer mehr Menschen Neusalz, die Situation wird chaotisch.
Onkel Charley hat dir noch ein Paket geschickt und gefragt, ob du auch gut auf alles aufpassen kannst, bis wir zurückkommen.
Du musst mir sagen, ob ich dir direkt etwas schicken soll, aber da musst du mir die Adresse besser schreiben, denn da habe ich mich nicht zurechtgefunden.
Und dann schau doch, ob du nicht zu mir kommen kannst, denn das wäre noch besser für dich.
Ady soll in Antwerpen auf alles achtgeben, bittet die Tante in ihrem Brief vom 16. Dezember, wie man das einer Nichte aufträgt, wenn man die eigene Schwester nicht überfordern will. Dass Ady nicht in Antwerpen nach dem Rechten sehen kann, ignoriert Netje. Sie nimmt an, Ady sei nach Deutschland geflüchtet. Von Firmin spricht sie nicht.
Wie weit weg war doch Schweden, wie weit entfernt war der Krieg, wie wenig wusste sie um das, was Ady widerfuhr.
Es ist die Zeit der Frauen. Sie müssen allein zurechtkommen. Maria in Antwerpen, Ady in Neusalz, Netje in Nässjö. Ihr Schreibstil ist wie stets etwas verworren, aber ihr Kummer ist zwischen den Zeilen spürbar.
Was Ady ihrerseits an Netje geschrieben hat, wissen wir nicht. Aber sie wird von ihrer Furcht gesprochen haben, was wohl werden wird, und über die Not während dieses harten Kriegswinters. Allzu deutlich ist sie sicherlich nicht geworden, man konnte ja nicht wissen, wer alles mitlas, schon gar nicht durfte sie sich darüber beklagen, dass sie zusammen mit Kriegsgefangenen in der Munitionsfabrik arbeiten musste; doch Anspielungen hat sie wohl gemacht. Netje macht sich Sorgen:
Denn ich habe jetzt so viel Kummer um dich, dass du jetzt nicht da bist, wo du warst, aber lass deinen Mut nicht sinken, denn sonst sehen wir dich nicht mehr. Jetzt denke ich jede Minute an dich. Die Sorge ist zu groß.
Ich bin auch noch immer allein, ich habe Onkel Charley noch nicht gesehen und ich glaube auch, dass ich ihn nie mehr sehe, aber er sagt, dass ich hier bleiben muss, bis alles vorbei ist. Er will mich holen kommen, sagt er. Und jetzt werde ich Onkel Charley wissen lassen, dass du da bist. Es ist noch gut, dass du auch Kameraden mit hast, mit denen du sprechen kannst, denn anders wäre es doch arg. Hoffe, dass ich dir auch noch mal was schicken kann. Aber vergiss nicht, dass ich mir soviel
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