Die Frau des Diplomaten (German Edition)
Gebets heimlich Informationen austauschen konnte.
Ein sicherer Zufluchtsort, denke ich, während ich die offenstehende Kirchentür betrachte. Niemand wird mich dort behelligen. Ich gehe die breite Treppe hinauf. Drinnen ist es kühl und dämmrig, nur eine alte Frau ist da, die zu meiner Rechten eine Kerze anzündet. Ich setze mich auf eine der hinteren Bänke und halte den Kopf gesenkt. Das Holz verströmt den Geruch von Erde und Menschen, und mir drängt sich die Vermutung auf, dass ich nicht die Erste bin, die hier Unterschlupf sucht. Ich blicke nach oben und betrachte die Statuen der Heiligen, die mitleidig auf mich herabstarren. Was soll ich denn machen?, frage ich stumm. Die Heiligen blicken genauso stumm zurück, ihr Mitleid ist für mich ohne Nutzen. Hinter mir höre ich Stimmen. Zwei Frauen sind in die Kirche getreten und nehmen ihre Kopftücher ab, dann gehen sie den Mittelgang entlang und halten jede einen Rosenkranz in der Hand. Ich überlege, ob dies hier ihre Gemeinde ist und ob sie regelmäßig herkommen. Falls ja, werden sie vielleicht wissen, dass ich fehl am Platz bin. Aber sie nehmen von mir keine Notiz. Als sie an mir vorbei sind, sinke ich von plötzlicher Erschöpfung gepackt in mich zusammen. Mein ganzer Körper schmerzt.
Morgen werde ich zur britischen Botschaft gehen und die Leute dort anflehen, mein Visum zu verlängern. Was aber, wenn sie sich weigern? Ich verdränge diesen Gedanken. Das Visum muss einfach verlängert werden, alles andere ist undenkbar. Ob die Kirche wohl die ganze Nacht geöffnet hat? Und ob ich bis zum Morgen hier bleiben kann? Weitere Besucher kommen in die Kirche, verweilen ein paar Minuten, um zu beten, dann gehen sie wieder. Ich hatte mir die Menschen in Paris immer besonders modisch vorgestellt, doch diese Leute tragen schlichte Kleidung, ihre Mienen sind von Sorgen geprägt. Mir wird bewusst, dass Paris ebenfalls von den Deutschen besetzt gewesen ist.
Draußen läuten die Kirchenglocken achtmal, und wie auf ein geheimes Zeichen hin taucht vor dem Eingang ein Mann mit einem Besen auf und beginnt zu kehren. Ich ahne, dass die Kirche bald für die Nacht geschlossen wird. Ich kann nicht bleiben, also stehe ich auf und gehe nach draußen. An der obersten Treppenstufe verharre ich und überlege, wohin es gehen soll. Ein Wolkenbruch geht auf die Stadt nieder, am Fuß der Treppe bilden sich große Pfützen. Ich betrachte den Eingangsbereich der Kirche mit den breiten Säulen zu beiden Seiten. Ich gehe zur rechten Säule und stelle fest, dass sich zwischen ihr und der Außenmauer eine Aussparung befindet, die vielleicht einen Meter breit und einen halben Meter tief ist. Hier kann mich niemand bemerken, und so setze mich auf den kalten Steinboden, von dem ein feuchter Geruch aufsteigt. Ich bin dankbar für einen Platz, an dem ich vor dem Regen sicher bin.
Ich lege die Arme um meine Knie und schaue hinunter auf die Straße, die durch diese verwirrende, fremde Umgebung verläuft. Wie bin ich bloß hergekommen? Plötzlich fällt mir ein, wie ich einmal in den Wäldern außerhalb von Lodz unterwegs gewesen bin. Jakub hatte mich unter einer Baumgruppe zurückgelassen, um sich allein auf die Suche nach unserem Informanten zu machen. Später sollte ich erfahren, dass er sich auf dem Rückweg zu mir nur verlaufen hatte. Aber wie ich da in der Dunkelheit kauerte, umgeben von seltsamen Geräuschen, stand ich fürchterliche Ängste aus. Was, wenn er nicht mehr zurückgekommen wäre? Die Erinnerung daran lässt mir einen Schauer über den Rücken laufen. Bis zu jenem Moment im Wald hatte ich mir nie vorstellen können, was es bedeutet, ganz allein zu sein. Der Gedanke verfolgte mich später, als ich, von aller Welt verlassen, in meiner Zelle lag. Seit meiner Befreiung habe ich daran nicht mehr denken müssen, doch jetzt, da ich erneut allein bin, stürzt die Erinnerung auf mich ein.
Meine Gedanken werden unterbrochen, als ich Schritte höre. Der Mann mit dem Besen steht ein Stück von mir entfernt und sieht mich an. Sekundenlang begegnen sich unsere Blicke, dann geht er zurück in die Kirche. Mein Herz beginnt zu rasen. Wird er mich wegschicken? Oder die Polizei rufen? Einen Moment später kommt er zurück, er hält etwas in der Hand. Es ist eine Decke, die er neben mich auf den Boden legt. „Merci“, sage ich, aber er macht wortlos kehrt, geht in die Kirche und zieht die Tür hinter sich zu.
Ich starre ihm nach und kann diese Geste noch immer nicht recht fassen. Dann greife ich
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