Die Frau des Diplomaten (German Edition)
nach der Wolldecke und lege sie mir um. Sie riecht nach Zigarettenrauch. Ich überlege, ob sie dem Mann gehört und ob er sie schon mit anderen geteilt hat. Dann lehne ich mich zurück und fühle mich nicht mehr ganz so einsam. Ich blicke auf die regennasse Straße hinab. Von dort wandert mein Blick hinauf zum düster zugezogenen Himmel, und ich frage mich, was der nächste Tag wohl bringen wird.
7. KAPITEL
Ich falte die Decke zusammen und schaue zur Kirchentür. Ich würde sie dem Mann, der sie mir gestern Abend gegeben hat, gern zurückgeben und ihm danken, doch er ist nirgends zu sehen und die Tür ist noch geschlossen. Also lege ich die Decke dorthin, wo ich die Nacht verbracht habe, und mache mich auf den Weg.
An diesem Morgen herrscht Sonnenschein, der die Pfützen auf dem Gehweg verdunsten lässt. Ich durchquere den Park, der mit Ausnahme eines älteren Mannes menschenleer ist. Ich glaube den Mann vom Vorabend wiederzuerkennen, nur dass er jetzt unter einem Mantel zusammengerollt auf einer Bank liegt und schläft. Hat er die Nacht hier im Regen verbracht? Ich bin noch dankbarer als zuvor, dass ich unter dem Kirchendach und unter einer Decke Schutz gefunden habe.
Am anderen Ende des Parks angelangt, bleibe ich stehen und sehe hinauf zu der Flagge, die auf der britischen Botschaft weht. Mir stockt der Atem, als ich mir vorstelle, wie ich gleich diese Stufen nehmen werde, wie ich die Tür durchschreite und einen wildfremden Menschen davon zu überzeugen versuche, mein Visum zu verlängern. Es muss einfach klappen. Ich überquere die Straße und begebe mich zu dem Wachhäuschen, in dem jetzt ein anderer Wachmann als gestern seinen Dienst verrichtet. Ich atme tief durch, dann bringe ich auf Englisch heraus: „Ich … ich bin wegen eines Visums hier.“
Er zeigt nach links. „Um die Ecke.“
„Danke.“ Ich gehe an der Gebäudemauer entlang, doch als ich um die Ecke biege, verlässt mich der Mut. Vor mir befindet sich das Ende einer Warteschlange, die sich die ganze Straße entlang zu ziehen scheint. Ich trete auf den Mann zu, der als Letzter in der Schlange steht. „Visum?“, frage ich hoffnungsvoll und zeige auf die Tür. Mit etwas Glück warten sie ja alle aus einem ganz anderen Grund hier. Er zuckt mit den Schultern und dreht sich weg, woraufhin ich zu dem Wachmann zurückkehre. „Entschuldigen Sie, ich weiß, Sie sagten, dass der Eingang für Visa um die Ecke ist. Aber all diese Leute da …?“
„Warten auch alle auf ein Visum. Stellen Sie sich hinten an.“
Ich lege verwirrt den Kopf schräg. „Ich habe bereits ein Visum“, erkläre ich. „Ich muss es nur verlängern lassen.“
„Gleiche Schlange“, gibt der Wachmann zurück.
Enttäuscht gehe ich wieder um die Ecke und muss feststellen, dass die Schlange in den zwei Minuten meiner Abwesenheit noch um ein Stück länger geworden ist. Entmutigt stelle ich mich an. Vor mir stehen mindestens hundert Leute, Männer und Frauen verschiedenen Alters. Manche halten ein Baby im Arm, andere haben ein Kleinkind an der Hand. Hätte ich das gewusst, dann hätte ich doch die ganze Nacht hier gewartet, anstatt vor der Kirche zu schlafen.
In der Ferne schlägt die Glocke neunmal. Langsam setzt sich die Schlange in Bewegung. Vielleicht wird es ja doch nicht so schlimm. Doch dann stockt es wieder, und wir bewegen uns keinen Schritt weiter. Eine halbe Stunde verstreicht, dann eine Stunde. Als ich mich umdrehe, muss ich feststellen, dass sich hinter mir noch einmal mindestens zwanzig Leute eingefunden haben. Eine scheinbare Ewigkeit stehen wir da, ohne von der Stelle zu kommen, schließlich rückt die Schlange alle halbe Stunde um zwei Meter vor. Die Glocke schlägt inzwischen elfmal, die Sonne steht höher am Himmel und heizt die Luft auf, es wird zunehmend schwüler.
Bald ist Mittagszeit, und mein Magen beginnt zu knurren. Seit dem letzten Brot am Abend habe ich nichts mehr gegessen. Die Schlange scheint umso langsamer voranzukommen, je mehr Zeit vergeht. Einige Leute lehnen sich gegen die Mauer oder den Zaun, andere setzen sich einfach auf den Fußweg. An der Art, wie sich manche Wartenden in ihr Schicksal fügen, kann ich erkennen, dass sie nicht zum ersten Mal hier sind. Angst erfüllt mich, als der Nachmittag anbricht. Was, wenn ich heute gar nicht mehr an die Reihe komme? Ich schaue mich um und suche verzweifelt nach jemandem, der mir sagen kann, ob wir auch sicher alle noch angehört werden. Aber mein Französisch reicht nicht, um jemanden in der
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