Die Frau des Diplomaten (German Edition)
suchen müssen, und morgen komme ich wieder her. Gerade will ich weggehen, da höre ich ein Geräusch. Die Tür ist einen Spaltbreit geöffnet worden, ein schmaler Lichtstrahl fällt auf die Vortreppe. „Was wollen Sie?“ Diesmal kommt die Stimme des Mannes nicht aus dem Kästchen, sondern von der Tür.
„Wenn Sie das Tor öffnen würden …“ Der Mann erwidert nichts, kommt aber zum Tor. Er geht so langsam, dass es scheint, dass es ihn viel Mühe kostet. Als er aus dem Schatten tritt, sehe ich, dass er bis auf einen dünnen grauen Haarkranz kahl ist. Er trägt einen dunklen Anzug und ein Halstuch, was zu dieser späten Stunde sehr förmlich wirkt. Ich versuche mich zu erinnern, ob Rose je einen Onkel erwähnt hat.
Der Mann kommt bis zum Tor, öffnet es jedoch nicht. „Ja, bitte?“ Ich merke, wie ich mir unter seinem eindringlichen Blick sehr klein vorkomme.
Ich wähle die englischen Worte mit Bedacht, um mein Anliegen vorzutragen. „Ich bin hier, weil ich Mrs. LeMay sprechen muss.“ Dabei hebe ich eine Hand, um seinen Widerspruch abzuwehren. „Ich weiß, es ist spät. Es tut mir leid. Aber ich komme von weit her und muss dringend mit ihr sprechen. Es geht um ihre Nichte Rose.“
Der Mann wird hellhörig. „Rose? Was ist mit ihr?“
Ich zögere. Ein Teil von mir möchte ihm die Wahrheit sagen und ihm Roses Habseligkeiten in die Hand drücken, damit das endlich erledigt ist. „Gehören Sie zur Familie?“
„Nein, ich bin Charles, der Butler“, erwidert er. „Aber ich werde Ihre Nachricht an Mrs. LeMay weiterleiten.“
„Es tut mir leid“, beharre ich kopfschüttelnd, „aber ich muss mit Mrs. LeMay persönlich reden.“
Der Mann betrachtet mich sekundenlang, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich öffnet er das Tor. „Treten Sie ein. Ich werde sehen, ob Mrs. LeMay Sie empfangen kann.“
Als ich ihm die Stufen hinauf folge, weht mir der intensive Duft von Geißblatt entgegen. Plötzlich sehe ich Rose vor mir, wie sie als Kind in diesem Garten spielt. Trauer regt sich in mir. Rose sollte jetzt hier sein, nicht ich.
Ich verdränge das Gefühl und betrete das Haus. Hinter der Tür erstreckt sich eine großzügige Diele, der Boden ist mit schwarz-weißen Kacheln ausgelegt. Direkt vor mir führt eine Treppe in die Dunkelheit. „Warten Sie hier“, fordert der Mann mich auf, dann verschwindet er durch eine Tür zu meiner Linken. Ich bleibe allein in der Diele zurück. Durch eine offene Tür auf der rechten Seite ist das Ticken einer Uhr zu hören.
Augenblicke später sind von oben Schritte zu vernehmen, und am Kopf der Treppe erscheint eine ältere Dame. „Guten Abend“, sagt sie zu mir, während sie nach unten kommt. „Ich bin Delia LeMay.“ Roses Tante sieht ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt habe. Sie reicht mir kaum bis zur Schulter, dafür ist sie fast so breit, wie sie groß ist. Ihr rundliches Gesicht mit den ausgeprägten Pausbacken wird von schneeweißem Haar umrahmt, das sie zu einem Dutt gesteckt hat, der jeden Moment zu platzen droht. Der violette Glanz ihrer Augen lässt erkennen, dass sie tatsächlich Roses Tante ist. „Charles sagt, dass Sie wegen meiner Nichte hier sind.“
„Ja, mein Name ist Marta Nederman. Ich …“
„Marta!“, ruft Delia und lacht mich so strahlend an, dass ihre Augen von den Pausbacken ganz klein gedrückt werden. „Ich wusste ja nicht, wer Sie sind!“ Sie durchquert die Diele leichtfüßiger, als ihre Statur es vermuten lässt, und küsst mich auf beide Wangen. Ihr nach Blumen duftendes Parfüm kribbelt in meiner Nase. „Rose hat mir alles über Sie geschrieben. Ich habe die Anträge losgeschickt, um das Visum zu verlängern und ein zweites für Sie zu bekommen.“ Dann hat Dava also die Wahrheit gesagt. Rose hatte gewollt, dass ich sie nach England begleite. „Aber ich habe Rose und Sie erst in ein paar Monaten erwartet. Was machen Sie so früh schon hier?“
Ich zögere mit meiner Antwort. „Können wir uns vielleicht setzen?“
„Oh, natürlich. Wie unhöflich von mir! Sie müssen von der langen Reise ganz erschöpft sein.“ Mit diesen Worten dirigiert sie mich nach rechts in den Salon. Auf dem Sofa und den zwei Sesseln liegen Überwürfe aus roséfarbener Seide mit Blumenmuster. Gerahmte Fotos stehen auf dem Tisch, auf der Fensterbank und dem Kaminsims. „Charles“, ruft Delia energisch, und sofort kommt der Butler herbeigeeilt. „Zwei Tassen Tee, bitte.“
„Jawohl, Ma’am.“
Nachdem er gegangen ist, deutet Delia auf
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