Die Frau des Germanen
griff Severina nach der Hand ihres Sohnes, so fest, dass der Kleine sich von ihr losmachen wollte. Aber er entkam dem
Willen seiner Mutter nicht. Severina drängte ihn auf einen der fünf Stühle, die für Germanicus’ Kinder vorgesehen waren. Der
Kaiser sollte bloß nicht glauben, dass ihr Sohn auf einen Platz in der zweiten Reihe zu drängen war, nur weil er blond und
blauäugig war! Sie winkte Gaviana, damit sie sich Silvanus zu Füßen setzte und ihn unterhielt.
Germanicus runzelte die Stirn, als er sich zu seiner Schwester setzte, aber Agrippina, die ahnte, dass er Silvanus’ Platz
für Caligula beanspruchen wollte, winkte ab und schob ihren Sohn einer Sklavin zu. »Besorg einen weiteren Stuhl!«
Die große Prozession begann, bei der die Gespanne, begleitet von Musikanten und Tänzern, ins Stadion einzogen. An ihrer Spitze
Naso mit seinem Vierspänner, der begeistert gefeiert wurde, und sein Herr, der ihm bisher so gnädig gewesen war, ebenfalls.
Immer wieder warf Antonius Andecamus Severina einen verstohlenen Blick zu, während er der jubelnden Menge zuwinkte, aber noch
immer erntete er nicht die Bewunderung, auf die er nach wie vor hoffte. Severina schenkte ihm nur wenig Aufmerksamkeit.
»Das Rennen besteht aus sieben Runden«, erklärte Gaviana und freute sich daran, dass Silvanus ihr aufmerksam zuhörte, obwohl
nicht zu erwarten war, dass er ihre Erläuterungen verstand.
Severina warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Bist du in Pollios Haus oft von einem Wagenlenker besucht worden? Oder woher
hast du deine Kenntnisse?«
Gaviana hob den Blick nicht. Sie starrte auf Silvanus’ Füße, schwieg und bewegte sich nicht. Es war, als wäre ein Kübel Unrat
über sie ausgegossen worden, und sie wartete nun darauf, dass der Schmutz von ihr abtropfe. Erst als die Gespanne auf die
Startboxen verteilt wurden, sprach sie weiter: »Siehst du die Mauer zwischen den beiden Wendepfeilern, Silvanus? Darauf |234| stehen sieben große bewegliche Holzeier. Nach jeder Runde wird ein Ei abgesenkt, damit jeder weiß, wie viele Runden noch zu
fahren sind.«
Als die Gespanne startfertig waren, erhob sich der Kaiser, hielt ein Stück weißes Tuch in die Höhe, zeigte es seinen erwartungsvollen
Untertanen – und ließ es dann auf die Startbahn fallen. Prompt öffneten sich die Tore der Boxen, die Gespanne schossen heraus.
Sämtliche Zuschauer sprangen von ihren Plätzen und schrien die Namen ihrer Favoriten. Jedes der Gespanne blieb in seiner Bahn,
bis die sogenannte Weißlinie erreicht war. Dann kam der erste Wendepunkt, und von da an konnte jedes Gespann seinen Weg frei
wählen. Natürlich versuchte jeder Wagenlenker, die Innenbahn zu erobern, was Naso gleich in der ersten Runde gelang. Das begeisterte
auch die, die eigentlich hinter einer anderen Renngesellschaft standen. Aber wie immer waren viele Wetten abgeschlossen worden,
und die meisten hatten natürlich auf Naso, den Favoriten, gesetzt. Er stand hinter seinen vier Pferden, als hätte er bereits
gesiegt, hoch aufgerichtet, stolz, von seiner Kraft und der Geschicklichkeit seiner Pferde überzeugt. Sein Sturzhelm war aus
besonders festem Leder, genauso wie die Bandagen an den Beinen und sein Riemenkorsett, das seinen Rumpf schützte. Darin steckte
sein krummes Messer, das dazu diente, im Moment höchster Not die Zügel zu durchtrennen. Doch Naso war es noch nie passiert,
dass er stürzte und aus seinem Rennwagen geschleudert wurde. Sollte es allerdings geschehen, dann war es wichtig, sofort die
Zügel zu durchschneiden, die um die Taille geschlungen waren, damit er nach dem Sturz nicht mitgeschleift wurde.
Die erste Wende nahm Naso mit Bravour. Seine Pferde hatten harte, gesunde Hufe und starke Gelenke, die den extremen Belastungen
standhielten. Besonders auf das innen laufende Pferd kam es an, es hatte die stärkste Belastung zu tragen. Aber dem jungen
Tier stand sogar überschüssige Kraft zu Gebote. Es vollführte eine halbe Drehung auf den Rückläufen, dann warf es sich schon
wieder auf die Vorderbeine und stürmte in die Gerade. |235| Das außen laufende Pferd hatte Mühe, sich aus der Fliehkraft zu befreien, und das wurde nach der nächsten Wende noch schwieriger.
Das innen laufende Pferd gab das Tempo an, ein mörderisches Tempo, und zerrte schon an den Zügeln, kaum dass es die Gerade
schnupperte, während das außen laufende noch gegen die Fliehkraft ankämpfte.
An der dann folgenden Wende büßte das
Weitere Kostenlose Bücher