Die Frau des Germanen
machte sich nun daran, Thusneldas Haare zu flechten |244| und am Kopf festzustecken. »Ist es wirklich klug, heute Abend Varus’ Fest zu besuchen?«, fragte sie. »Was, wenn jemand etwas
von dem gebotenen Thing in der letzten Nacht mitbekommen hat? Euer Vater! Oder Ingomar! Varus lässt Euren Gemahl womöglich
noch heute Nacht kreuzigen, wenn man ihn verraten hat.«
Thusnelda spürte die Gänsehaut, die über ihre Arme strich, und redete sich ein, dass der Morgen sehr kühl war. Nein, sie hatte
Arminius versprochen, ihn nicht mit Sorgen zu bedrängen und seine Zuversicht zu teilen. »Wenn Arminius dem Fest fernbliebe,
würde er sich erst recht verdächtig machen.« Dann wurde ihr Gesicht ärgerlich, sie nahm Inaja die Haarnadeln ab und befestigte
die letzte Flechte selber am Kopf. »Ich vertraue Arminius«, sagte sie mit fester Stimme, »und ich darf ihm nicht das Herz
schwermachen mit meiner Angst. Es ist richtig, sich den Römern entgegenzustellen und das Land von ihrer unseligen Herrschaft
zu befreien. Wenn die Römer so weitermachen, wird es am Ende keinen einzigen freien Germanen mehr geben! Ich werde sehr stolz
auf Arminius sein, wenn es ihm gelungen ist, aus den germanischen Völkern wieder freie Völker zu machen.«
Als Inaja die Augen aufschlug, stellte sie fest, dass das rohrgedeckte Dach Löcher aufwies. Auch die Wände aus lehmverstrichenem
Flechtwerk waren schadhaft. Warum war ihr das bisher nicht aufgefallen? Vor dem Winter musste der Bereich des Hauses, der
die Tiere beherbergte und dem Gesinde als Schlafplatz diente, unbedingt ausgebessert werden. Aber wer wusste schon, ob es
überhaupt noch dazu kommen würde! Womöglich würden sie den Winter gar nicht mehr erleben, und dieses Haus lag dann längst
in Schutt und Asche.
Das Kind, das sie geweckt hatte, weinte noch immer. Vorsichtig erhob sich Inaja und tastete sich ans andere Ende des Stalles,
wo die Kinder der Mägde vor dem Gatter im Stroh schliefen, hinter dem die Rinder wiederkäuten. Eine Kuh beugte sich über das
Gatter und leckte Gerlefs Gesicht. Das war es wohl gewesen, |245| was ihn geweckt hatte. Inaja setzte sich neben ihn, zog ihn auf ihren Schoß und wiegte ihn.
»Wer wird denn Angst vor einer Kuh haben? Dein Vater wäre traurig, wenn er das wüsste. Er will einen mutigen, starken Sohn,
auf den er stolz sein kann.«
Gerlef beruhigte sich schnell wieder, steckte einen Daumen in den Mund und schloss die Augen. Flüsternd erzählte Inaja ihm
von seinem Vater, von dessen Schönheit, seinem Stolz und seinem Mut. Ein Vater, der auf eine ganz besondere Weise lieben konnte.
»Es gibt nicht viele Männer, die so lieben können. Hilger konnte es, und dein Vater kann es auch.«
Als sie Gerlef zurücklegen wollte, schlug er prompt die Augen wieder auf und begann erneut zu weinen. Wieder zog sie ihn auf
ihren Schoß, dann erhob sie sich und ging, das Kind auf dem Arm, nach draußen. Vielleicht war Gerlef von Arminius’ und Hermuts
Rückkehr geweckt worden? Sie selbst glaubte nun auch, das Klappern von Pferdehufen gehört zu haben, leise Stimmen, ein aufgeregtes
Rufen, erleichtertes Lachen: Thusnelda hatte vermutlich wieder auf Arminius gewartet, und Hermut würde es gut tun, wenn auch
sie ihm entgegenkam, als hätte sie keine Ruhe finden können ohne ihren Mann an ihrer Seite. So, als hätte sie sich Sorgen
um ihn gemacht. Wieder einmal nahm sie sich vor, Hermut in der nächsten Zeit mit Freundlichkeit und Zuwendung das Leben zu
vergelten, das sie ihm verdankte. Ihm und Thusnelda. Er hatte ein wenig Liebe verdient, ehe er in seine letzte Schlacht zog.
Der Gedanke, mit Thusnelda allein zurückzubleiben, mit ihr gemeinsam den Heldentod der beiden Männer zu beklagen, war verlockend.
Wäre da nur nicht die Frage gewesen, was mit ihnen geschehen würde, wenn Arminius’ Plan misslang. Und dass er misslang, das
glaubte Inaja ganz sicher. Ein kleines Heer von germanischen Kriegern gegen drei römische Legionen! Hermut hatte zwar ebenfalls
von Arminius’ List erzählt, von einer Gelegenheit, die nie wiederkehren würde, die genutzt werden musste, aber Inaja war so
fest von der Größe, Stärke und Überlegenheit |246| der Römer überzeugt, dass sie daran nicht glauben mochte. Und wenn es doch gelang, würde Varus dann zurückkehren, um Rache
an denen zu nehmen, die zu Arminius gehörten? Oder ein paar Kohorten zu ihnen schicken, die ihnen zeigen sollten, wie man
mit Verrätern und
Weitere Kostenlose Bücher