Die Frau des Germanen
das Beben zu spüren, das im gleichmäßigen Atmen schlafender
Menschen entstand.
Vorsichtig bewegte Inaja die hölzerne Tür, die leise knarrte. So leise, dass niemand davon erwachte. Sie machte sich nicht
die Mühe, die Tür wieder zu schließen. Die Luft war lau, niemand würde frieren, und der Wind war längst eingeschlafen.
Inaja machte ein paar Schritte, dann atmete sie tief ein und aus. Die Nachtluft tat gut und das Alleinsein auch. Als sie weiterging,
genoss sie den Morast unter ihren nackten Fußsohlen, spürte, wie er zwischen ihren Zehen hervorquoll und ihre Schritte nun
hörbar machte. Aber Inaja war zuversichtlich, dass niemand auf sie aufmerksam wurde. Und wenn schon! Sollte jemand bemerken,
dass sie das Haus verlassen hatte, gab es viele gute Gründe, die keinen Verdacht erregen würden. Sie hatte nicht einschlafen
können, sie wollte sich in der Nähe des Misthaufens erleichtern oder Wasser aus dem Brunnen schöpfen, |98| weil sie durstig geworden war. Notfalls würde sie auch einen Grund dafür finden, dass sie mitten in der Nacht in eins der
Grubenhäuser eindrang, diese kleinen, ein paar Fuß tief in den Boden eingelassenen Häuser, in denen Vorräte kühl gelagert
wurden und in denen die Mägde webten.
Inaja wusste, was zu tun war. Sie hatte es gelernt, als Hilger noch lebte. Er hatte ihr gezeigt, wie ihr Geheimnis zu wahren
war. Sie lächelte, als sie feststellte, dass der alte Tonkrug, das einzige, was ihr Vater ihr hinterlassen hatte, noch hinter
dem Dachgebälk steckte. Er hatte sich mittlerweile fest mit den Rasensoden verbunden, die das Dach abdichteten, aber Inaja
brauchte nicht viel Kraft aufzuwenden, um den kleinen Krug daraus zu lösen. Sie zog den Korken aus der Öffnung und schnupperte.
Ja, der Weinessig duftete noch frisch und intensiv.
Inaja ließ ihr Nachtgewand über die Schultern gleiten und tastete mit den Fingerspitzen ihre Brüste und das Dekolleté ab.
Scharf sog sie die Luft ein, als sie auf klebrige Feuchtigkeit stieß. Es wurde wirklich Zeit, dass sie die Wunden behandelte.
Sie musste unbedingt dafür sorgen, dass sie sich nicht entzündeten. Das hatte Hilger ihr oft genug eingeschärft.
Inaja biss die Zähne zusammen, als sie mit geschlossenen Augen jeden Biss, jede Schramme mit Weinessig betupfte. Dann schob
sie den Krug wieder an seinen Platz zurück und hoffte, dass der Rest des Essigs noch eine Weile reichen würde.
Als sie wieder aus dem Grubenhaus trat und die Stufen hinaufstieg, fühlte sie sich bereits besser. Der Schmerz zeigte an,
dass die Heilung nicht zu spät kam. Dieser beißende, lebendige Schmerz war leicht zu unterscheiden von dem dumpfen Wüten in
den Körpern der Todkranken.
Die Nacht erschien ihr nun heller und klarer als noch kurz vorher. Sie konnte die Büsche gut von den Bäumen unterscheiden,
die dahinter standen. Ihre Kronen spreizten sich vor dem Nachthimmel, über den Mani, der Bruder der Sonnengöttin Sol, seinen
Mondwagen lenkte und so für Licht sorgte.
Schon bald stand Inaja vor einer morschen Eiche, die genau |99| das hatte, was sie brauchte. Sie sah den Schwamm, ohne erst über die Rinde zu tasten. Er war hell und wuchs ihr geradezu in
die Hände. Vorsichtig löste sie ihn vom Stamm, roch daran und nickte zufrieden. Dann ließ sie sich auf die Knie nieder und
tastete den Boden ab. So lange, bis sie das Moos unter ihren Händen spürte. Ein dralles, feuchtes Polster. Genau richtig!
Behutsam lockerte sie ein Mooskissen, hob es an, dann setzte sie sich, lehnte sich an den Stamm der Eiche und schloss die
Augen. Sie richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihre Fingerspitzen, die den Schwamm behutsam teilten. Als es gelungen war,
legte sie ihn mit der Innenseite auf ihre Wunden. Darüber deckte sie das Moos, damit seine heilenden Stoffe tief in ihre Haut
eindringen konnten. So hatte Hilger es ihr gezeigt. Und so war jede ihrer Wunden stets gut verheilt, ohne Narben zu hinterlassen.
»Hilger!«, flüsterte sie. Aber nur ein einziges Mal und so leise, dass sie es selbst nicht hören konnte, nur wusste, dass
sie den Mund geöffnet hatte und ihre Zunge an die Vorderzähne gestoßen war. »Flavus«, sagte sie dann. Ebenfalls leise, aber
so, dass sie den Namen verstehen konnte. »Flavus!«
Sie streckte die Beine aus und spreizte sie. Mit der linken Hand hielt sie weiterhin die heilenden Kräfte des Schwamms auf
ihrer Brust, mit der anderen strich sie über ihre Scham. So sanft und
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