Die Frau des Polizisten
zugestoßen?«, fragte Erika. Sie lehnte sich vor und suchte seinen Blick.
»Ich weiß es nicht.«
»Es ist also nicht so, dass Sie für Barbros Verschwinden gesorgt haben?«
»Nein, was würde das helfen?«
»Na ja, helfen vielleicht nichts, aber wir haben ja alle unsere Grenzen, und es gibt da etwas, das sich Rache nennt«, fuhr Erika seidenweich fort.
Stefano sah sie eindringlich an.
»Natürlich, der Gedanke ist mir gekommen. Als ich außer mir war vor Wut und zutiefst verzweifelt – aber ich bin kein Mörder.«
Erika sah dem attraktiven Italiener noch lange durch die gläsernen Scheiben des Foyers nach, als er zum Parkplatz ging. Er war zumindest ehrlich. Wut, Erniedrigung und Ohnmacht waren ein guter Nährboden für Hass und Rachegelüste. Seltsam war nur, dass er von Mord gesprochen hatte.
Kapitel 32
Erika drosselte die Geschwindigkeit, fuhr an der langen Mauer entlang und suchte an dem Briefkasten, der im Torpfeiler eingelassen war, nach einem Namen. Als sie das Seitenfenster etwas öffnete, sah sie, dass mit feinsäuberlichen Buchstaben »Edin« ins Metall eingraviert war. Sie parkte den Wagen auf der Straße. Beim Aussteigen blies ihr ein eiskalter Wind entgegen, so dass sie den Weg zum Haus hinaufeilte. Alle Fenster waren hell erleuchtet; der goldgelbe Lichtschein wirkte warm und einladend.
Eine gedrungene Frau unbestimmten Alters öffnete die Tür.
»Kriminalinspektorin Erika Ekman«, stellte Erika sich freundlich vor. Die Frau erwiderte das Lächeln mit runden Pausbacken, trotzdem blieb das Gesicht seltsam ausdruckslos.
»Ich bin von der Polizei und möchte Frau Edin sprechen«, wiederholte Erika und musterte die Frau, die von einem Bein aufs andere trat und sich dabei die Hände knetete.
Erika fror so entsetzlich, dass sich ihr Rücken verspannte; ihr Magen kämpfte nervös mit dem Baguette, das sie vor der Abfahrt hastig in sich hineingeschlungen hatte. Das Lächeln auf dem runden Frauengesicht erlosch. Hatte die Frau begriffen, was sie gesagt hatte? Ihre Haare waren rabenschwarz und dick wie Rosshaar. Unter den nussbraunen Augen hatte die Haut einen bläulichen Schimmer, und sie besaß einen dunklen Oberlippenbart. Erst als Erika ihre Dienstmarke zeigte, reagierte sie, schlug eine Hand vor die Stirn, ließ einen klagenden, schwer verständlichen Wortschwall los und schob Erika in die Diele.
Als Erika abgelegt hatte, wurde sie in einen langgestreckten Flur gebeten. Die Frau watschelte schnell in ein Zimmer, um ihre Anwesenheit zu melden. Erika sah sich um. Die Wände waren halbhoch mit Holzpaneelen verkleidet, darüber als Wandmalerei hauchzarte Landschaften, die sich bis zu den Deckenbalken und der reichverzierten Kassettendecke fortsetzten. An den beiden Enden der Zimmer standen feudale Kachelöfen und zwei ausladende Kristalllüster warfen bunte Reflexe und ein angenehmes Licht in die Räume und über die schönen Parkettböden, Sofas, die riesigen Esszimmermöbel und die schweren Schränke. Sie fühlte sich in eine andere Zeit versetzt, als ob sie mitten in die Dreharbeiten einer britischen Serie des späten 19. Jahrhunderts hineingeplatzt wäre.
In einer Ecke des Zimmers saß eine ältere Dame in einem abgewetzten Ledersessel, mit einem Kreuzworträtselheft auf dem Schoß und einer großen rot-gelben Katze zu ihren Füßen. Auf einem niedrigen Tischchen vor ihr stand ein silbernes Tablett mit Tee, Gebäck und Marmelade. Die Frau sah nicht von ihrer Beschäftigung auf. Erst als die Haushälterin sich vorbeugte und ihr etwas ins Ohr flüsterte, hob sie den Kopf, legte den Stift beiseite und sah Erika würdevoll an.
Ihre Haut war so weiß wie Porzellan und von kleinen Fältchen und Furchen durchzogen, aber ihre Gesichtszüge waren scharf. Sie hatte hohe Wangenknochen, eine gerade Nase und mandelförmige braune Augen und trug ein gutgeschnittenes Kleid aus einem meergrünen wollenen Stoff. Ihre weißen Haare waren im Nacken zu einer eleganten Hochsteckfrisur arrangiert. Die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter war frappierend, doch hatten Verbitterung und Verachtung irgendwann Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen; ausgeprägte Falten zogen sich zu den Mundwinkeln, die dem Gesicht einen hartenAusdruck verliehen. Barbros Mutter blieb sitzen, ihre Hände ruhten auf dem Kreuzworträtsel. Wortlos musterte sie Erika. Die Haushälterin ging leise aus dem Raum.
»Guten Tag«, begrüßte Erika sie freundlich. »Ich komme von der Bezirkskriminalpolizei und möchte Ihnen gerne noch ein paar Fragen
Weitere Kostenlose Bücher