Die Frau des Praesidenten - Roman
einfach nicht, warum das nicht reicht, warum unser Leben nicht gut genug sein soll. Für mich ist es doch auch gut genug.«
»Seine Ambitionen übersteigen seine Fähigkeiten.«
Ich gab mir Mühe, das nicht als Beleidigung aufzufassen. »Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde. Er ist sehr intelligent. Und vielleicht liegt es an mir, vielleicht langweile ich ihn …« Die Erinnerung an den Nachmittag, an dem wir einander zum ersten Mal unsere Liebe gestanden haben, schmerzte. Es war der Tag gewesen, an dem Charlie meine Mutter und Großmutter und Lars kennengelernt hatte, und ich erinnerte mich genau daran, wie er sein Bekenntnis damit eingeleitet hatte, dass er glaubte, er werde mich immer interessant finden. Schmerzhaft waren diese Erinnerungen, weil ich mich immer öfter fragte, ob er damit recht behalten hatte. Was für ein wundervolles Kompliment das gewesen war, wie unerwartet und wie
anerkannt
ich mich gefühlt hatte. Ich war für Charlie nicht irgendeine niedliche Brünette; er begriff, dass ich mir Gedanken machte und meine eigene Meinung zu den Dingen hatte, auch wenn ich sie selten aussprach, und diese Eigenschaften schätzte er an mir. Aber wünschte er sich vielleicht jetzt, imNachhinein, er hätte eine aufregendere Frau geheiratet, eine, deren Idealvorstellung von einem gelungenen Samstagabend nicht darin bestand, mit unserer neunjährigen Tochter zu Abend zu essen und dann vor dem Einschlafen vierzig Seiten von Eudora Welty zu lesen? Und dass unsere Ehe ohne verbitterten Streit auskam, vielleicht enttäuschte ihn selbst das – es gab keine Gelegenheiten zu Geschrei und Türenknallen, keine aufregend hässlichen Wutausbrüche, keine erotisch geladenen Versöhnungsszenen.
Meine Großmutter sagte: »Jeder ist mal langweilig. Die faszinierendste Person, die ich je kennengelernt habe, war eine Frau namens Gladys Wycomb. Habe ich dir meine Freundin Gladys schon vorgestellt?«
Ich nickte.
»Sie war die achte Frau im Staat Wisconsin, die einen Abschluss in Medizin gemacht hat, wirklich ein brillantes Mädchen. Aber wenn ich sie besuchte, dauerte es nur ein paar Tage, bis wir beim Abendessen beide in unseren Büchern blätterten. Das hat mich nicht im Mindesten gestört. Gibt es ein größeres Privileg, als sich miteinander langweilen zu dürfen?«
»Da gebe ich dir recht, aber ich bin mir nicht so sicher, dass Charlie das auch tun würde.«
»Weiß er, dass du an ihm zweifelst?«
»Es ist nicht so, dass ich an ihm zweifle, sondern
er
hat Zweifel, ob sein Beruf und der Weg, den er eingeschlagen hat …« Ich stockte. War das nicht gelogen, wenn auch unbeabsichtigt? Ich
war
diejenige, die an ihm zweifelte. Ich starrte auf den Fußboden aus weißem Linoleum. Dann hob ich den Blick wieder und fragte: »Ich weiß, dass du von Charlie beeindruckt warst, als du ihn zum ersten Mal gesehen hattest, aber bist du es immer noch?« Wie kam ich dazu, meiner von Medikamenten benebelten Großmutter diese Frage zu stellen, als sei sie eine Art Medium ehelicher Weisheit? Oder fand ich überhaupt nur deshalb den Mut dazu, weil sie so sediert war? Selbst Jadey gegenüber war ich nicht so offen wie jetzt.
»Ich war von ihm beeindruckt, weil ich sah, wie er dich anbetete, und du verdienst es, angebetet zu werden«, sagte meineGroßmutter. »Ehrlich gesagt, klingt das, was du beschreibst, nach viel Lärm um nichts. Fahr nach Hause, zieh dir ein hübsches Kleid an, elegante Schuhe und Lippenstift, flirte mit ihm, schmeichle ihm ein bisschen und vergiss nie, wie unsicher Männer sind. Das liegt daran, dass sie sich selbst viel zu ernst nehmen.«
In diesem Moment kamen mir ihre Ratschläge wie ein Rettungsring vor – so einfach und so problemlos anwendbar. Was für eine immense Erleichterung es war, jemanden zu haben, der mir sagte, was ich zu tun hatte! Dann sagte sie: »Würdest du mir etwas Wasser holen? Sie haben mir scharf gewürztes Hühnchen zu essen gegeben, und der Nachgeschmack ist mir unangenehm.«
»Hier ist dein Becher.« Ich half ihr wieder zu trinken, und als sie damit fertig war, hielt ich das Buch hoch, das ich in meiner Handtasche dabeihatte. »Ich habe dir
Anna Karenina
mitgebracht. Soll ich dir daraus vorlesen?«
»Das wäre wunderbar.«
»Die Stelle, wo sie und Wronski einander begegnen, oder den Anfang?«
»Wo sie einander begegnen.«
Während ich das Buch öffnete, sagte ich: »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht schlecht von Charlie. Du hast bestimmt recht damit, dass ich diese Dinge
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