Die Frau des Praesidenten - Roman
ansteuerte. Da ich geglaubt hatte, die Wohnung bei meiner Rückkehr leer vorzufinden, war ich überrascht und auch neugierig (konnte die laute Musik von Myra stammen? Aber nein, sie war am späten Nachmittag nach Hause gegangen). So ging ich stattdessen auf das Wohnzimmer zu und wollte gerade über die Schwelle treten, als ich meine Großmutter lachen hörte, und kurz nachdem ich sie lachen hörte, sah ich sie auf Dr. Wycombs Schoß sitzen und deren Lippen küssen.
Dr. Wycomb trug einen burgunderroten Seidenbademantel, meine Großmutter einen beigefarbenen Büstenhalter und einen mit Spitze besetzten beigefarbenen Unterrock. Sie waren einander zugewandt, hatten die Münder leicht geöffnet, die Augen geschlossen, küssten sich sekundenlang, und ihr Kuss dauerte noch immer an, als ich mich rückwärts wieder entfernte, derart betäubt, dass der Schock kurzzeitig die Übelkeit überwog. Ich musste weg von hier, alles andere war undenkbar. So vorsichtig und leise wie möglich öffnete ich die Tür, verließ die Wohnung und trat auf den Flur. Schlagartig kehrte meine Übelkeit zurück, und noch bevor ich wusste, was ich tat, war es bereits geschehen. Rechts und links des Fahrstuhls standen große Metallvasen, fast einen Meter hoch, die mit roten Schleifen umwickelt waren und in denen kunstvoll arrangiert Tannenzweige steckten. Ich steuerte auf die nächststehende Vase zu, schob die Zweige beiseite und übergab mich – widerwärtig, beißend, befreiend – in deren Inneres.
Entkräftet blieb ich eine ganze Weile auf dem Teppich liegen. Ich wusste, ich sollte aufstehen, um entweder hinunter in die Eingangshalle zu gehen oder um an die Tür zu klopfen und darauf zu warten, von den beiden zurück in die Wohnung gelassen zu werden, doch keine dieser Möglichkeiten erschien mir besonders reizvoll. Stattdessen schlief ich neben dem Fahrstuhl ein, zusammengerollt in meinem Schottenrock und Mantel. Nach etwa einer Stunde, vielleicht früher, vielleicht später, fand mich der Liftboy. Er klopfte an die Wohnungstür, und als Dr. Wycomb öffnete, fühlte ich mich wie ein ertappter Schulschwänzer. »Sie hat sich hier draußen übergeben«, sagte der Liftboy. »Ich weiß nicht, wer das jetzt sauber machen soll, ich jedenfalls habe heute Nacht einen Fahrstuhl zu bedienen.«
Dr. Wycomb sah nun mich an.
»Vielleicht habe ich etwas Verdorbenes gegessen«, murmelte ich.
»Vielen Dank, Teddy«, sagte sie zu dem Liftboy. »Ich kümmere mich darum.« Sie führte mich nach drinnen und rief: »Emilie, Alice ist schon früher zurückgekommen.«
»War er so unausstehlich?« Die Stimme meiner Großmutter wurde im Näherkommen lauter. »Alice, du solltest wirklich …« Dann sah sie mich und sagte: »Grundgütiger, du siehst ja grauenhaft aus.« Ich stellte fest, dass sie vollständig bekleidet war, sie trug ihr braunes Kostüm.
»Sie hat sich übergeben, und ich vermute, dass sie Fieber hat und dehydriert ist«, sagte Dr. Wycomb. Sie steckten mich ins Bett, maßen meine Temperatur – offenbar 39 Grad –, und Dr. Wycomb sagte: »Es ist wichtig, dass du jetzt viel trinkst. Emilie, hol ihr ein Ginger Ale aus der Speisekammer.«
Als mir meine Großmutter das Glas brachte, nahm ich ein paar Schlucke – es war süß und spritzig – und schlief dann sofort ein. Diesmal fiel ich in einen weitaus tieferen Schlaf als im Flur. Als ich das nächste Mal aufwachte, war es laut der kleinen runden Uhr auf dem Marmortisch kurz vor vier; in dem Bett neben mir schlief meine Großmutter. Beim dritten Aufwachen war sie fort, ich war allein im Zimmer und konnte den Duftvon Kaffee riechen. Ich stand auf, um auf die Toilette zu gehen, und als ich zurückkam, wartete meine Großmutter auf mich, in der Hand eine Zigarette. »Du verstehst es zweifellos, das neue Jahr stilvoll einzuläuten«, sagte sie.
»Es tut mir leid, wenn ihr meinetwegen gestern Abend nicht in dieses Hotel gehen konntet.«
»Wenn Marvins Eltern auch nur ansatzweise nach ihrem Sprössling kommen, hast du uns einiges erspart. Ich muss schon sagen, um krank zu sein, hättest du dir in ganz Chicago keinen idealeren Ort aussuchen können. Die beste Ärztin der Stadt steht dir zu Diensten.«
Ich krabbelte zurück ins Bett und stand für den Rest des Tages nur auf, um auf die Toilette zu gehen; ich wusch mich noch nicht einmal. Unter der Decke fror und schwitzte ich abwechselnd, mein ganzer Körper tat weh, und regelmäßig wurde meine Temperatur gemessen. »Wir sollten den Dingen ihren
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