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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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ich, Marvins Meinung über mich sei mir egal, doch vielleicht wusste mein Körper es besser als mein Kopf.
    Ich wurde mir der Angestellten draußen neben dem Waschbecken bewusst und zwang mich aufzustehen, zu spülen und meine Kleidung zu richten. Ich wusch mir die Hände, und als mir das Mädchen ein Handtuch reichte, sagte ich – ich hatte den Teller mit den Münzen entdeckt: »Tut mir leid, meine Handtasche liegt auf dem Tisch.«
    Zurück am Tisch sagte Marvin zu mir: »Ich war so frei, uns ein Horsd’œuvre zu bestellen. Was hältst du von Schnecken?«
    »In Ordnung.« Ich hatte natürlich noch nie welche gegessen, aber ich wusste, was es war, und fand die Vorstellung scheußlich. Als der Ober die kleine weiße Schüssel mit den labberigen, in geschmolzener Butter schwimmenden Bröckchen brachte, musste ich wegsehen. Marvin bestellte Hasenfrikassee als Hauptgericht – grinsend fügte er hinzu: »Bitte überbringen Sie Mr. Bugs Bunny meine Entschuldigung« –, und ich entschied mich für Steak. Es schien mir ein einfaches Gericht, das keine Überraschungen bereithalten würde; ich konnte drei Bissen nehmen und den Rest auf meinem Teller hin- und herschieben.
    Marvin beugte sich über den Tisch und sah mich herausfordernd an. »Stell dir folgendes moralisches Dilemma vor. Du hast dir in deinem Garten einen Luftschutzbunker gebaut, und deine Nachbarn nicht. Dann greifen die Sowjets an. Du rast zu deinem Bunker, aber deine Nachbarn kommen vorbei und bitten dich um Wasser und Lebensmittel. Was tust du?«
    »Wie bitte?«, fragte ich.
    »Alice, verfolgst du hin und wieder das aktuelle politische Geschehen? Und damit meine ich nicht, welchen Hut Jackie Kennedy diese Woche trägt und wer ihr Kleid entworfen hat.«
    »Manchmal lese ich Zeitung.« Eines meiner Organe hattegerade einen Überschlag in meinen Bauch gemacht, was mir ausreichend Ablenkung verschaffte, um Marvins herablassende Bemerkung nicht an mich heranzulassen.
    »Du erschießt sie«, sagte er. »Das tust du. Wenn deine Nachbarn nicht vorsorgen, bist du für ihr Überleben nicht verantwortlich.«
    In diesem Moment servierte der Ober das Hauptgericht. Mein Steak war ein Klumpen braunes Fleisch, das noch am Knochen hing, daneben lagen bedrohlich glänzende Erbsen und Karotten sowie eine Ofenkartoffel, aus deren aufgeplatzter Schale das Innere hervorquoll. Ich wusste, dass ich nichts davon essen, nichts davon anrühren konnte.
    »Was sich niemand bei Chruschtschow bewusst macht …«, begann Marvin, und ich fuhr dazwischen: »Es tut mir leid, aber ich fühle mich nicht besonders. Ich muss gehen.«
    »Jetzt?«, fragte Marvin verdutzt.
    »Tut mir leid.« Ich stand auf. »Bitte bleib du hier. Ich gehe besser zurück zu Dr. Wycombs Wohnung.«
    »Bist du sicher?«
    »Es wäre schade, wenn wir beide unser Essen zurückgehen ließen. Es tut mir wirklich leid.« Ich hastete durch das Restaurant, holte meinen Mantel von der Garderobe – der Mann dahinter sagte etwas zu mir, als er mir den Mantel reichte, doch ich lief hinaus, ohne zu antworten. Mir war schwindelig und kochend heiß, und mit aller Kraft konzentrierte ich mich darauf, dass sich dieses fürchterliche Wogen in meinem Innern nicht in aller Öffentlichkeit entlud. Wenn ich es nur zurück in Dr. Wycombs leere Wohnung schaffte, dann könnte ich mich im Bad auf den Boden neben die Toilette setzen, und alles würde seinen geordneten Gang gehen; der gewisse Moment würde sich ohne Publikum abspielen.
    Geh weiter, geh weiter
, sagte ich zu mir; ich wiederholte diesen Satz wieder und wieder, bis es mir in meiner taumelnden Verzweiflung schien, als sei ich in einer Endlosschleife dieser zwei Worte gefangen und sie führten mich direkt in ein Fegefeuer der Übelkeit. Draußen war es bitterkalt, was zunächst angenehmer war als die Luft im Restaurant, sich jedoch schnellzu einem neuen Problem entwickelte. Und dann, wie durch ein Wunder, stand ich plötzlich vor Dr. Wycombs Haus. Der Portier nickte mir zu, und auch der Liftboy schien mich wiederzuerkennen. »Frohes neues Jahr«, sagte er, doch ich erwiderte nichts. Erneut war ich mir meiner Unhöflichkeit bewusst, traute mich aber nicht, den Mund zu öffnen.
    Dann die goldene Seidentapete, der Flur, die Tür zu Dr. Wycombs Wohnung. Meine Hände zitterten, als ich den Schlüssel ins Schloss steckte. Es lief Musik, als ich die Wohnung betrat – es war Jazz, und es war laut –, weshalb ich, trotz der Übelkeit, nicht sofort den Flur in Richtung Schlafzimmer

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