Die Frau des Praesidenten - Roman
was ich je erlebt hatte.«
»Trauriger als dass dein Dad und Granny gestorben sind?«
»Es war anders. Wenn ein junger Mensch stirbt, ist das etwas anderes, als wenn jemand stirbt, der schon älter ist. Menschen sollen erwachsen werden und heiraten und Kinder bekommen, und wenn sie das nicht können, kommt es einem wie ein Irrtum vor.«
»So wie bei Jesus?« Ella war so ernst, wie ich sie vielleicht noch nie erlebt hatte, ganz konzentriert, und hörte genau auf jedes meiner Worte.
»Jesus war schon erwachsen, als er starb. Aber es stimmt, dass er auch nicht geheiratet und keine Kinder bekommen hat, und sein Tod war auch sehr traurig.«
Ella schwieg und dachte nach. »Glaubst du, Andrew Christopher Imhof und Granny sind jetzt zusammen?«
Ich lächelte. »Er wurde einfach Andrew genannt, oder Andrew Imhof. Du musst seinen zweiten Vornamen nicht dazusagen. Weißt du, Granny und er kannten sich tatsächlich einbisschen – wie du wahrscheinlich bemerkt hast, ist Riley so klein, dass jeder jeden kennt. Als Andrew und ich ein Jahr jünger waren als du jetzt, sind Granny und ich ihm und seiner Mutter beim Einkaufen begegnet, und Granny dachte, Andrew sei ein Mädchen. Seine Haare waren damals ein bisschen länger und ein bisschen wellig.«
»Sie dachte, er wäre ein
Mädchen
?« Ella wirkte entsetzt, aber auch fasziniert.
»Ich glaube, er fand das nicht besonders schlimm.«
Ella hatte ihre Beine aufgestellt und das aufgeschlagene Jahrbuch gegen ihre Oberschenkel gelehnt. Sie betrachtete das Foto. »Hast du Andrew geliebt?«
»Ja«, sagte ich, »das habe ich.« In gewisser Weise war es schön, über ihn reden zu können – niemand hatte mir bisher diese Fragen gestellt, weil nur ein Kind es wagen konnte –, aber ich war auch erschüttert bei dem Gedanken, wie weit ich ihn hinter mir gelassen hatte, als ich dort in meinem früheren Zimmer stand. Ich träumte immer noch regelmäßig von ihm, aber in diesen Träumen erlaubte es mir eine Art Unschärfe, so alt zu bleiben wie er und zu ignorieren, was in diesem Moment nicht zu leugnen war: dass ich fünfundzwanzig Jahre älter geworden war als er bei seinem Tod. Ich hatte nach dem Unfall viele Jahre länger gelebt als er davor, und Ella war dem Alter, das er erreicht hatte, näher als ich. War es ekelhaft, war es ungehörig, dass ich mich als zweiundvierzigjährige Frau noch so genau an die Vorfreude auf unseren ersten Kuss erinnerte, an den Anblick dieses sonnengebräunten, gutaussehenden Jungen im Footballtrikot und daran, wie warm sich seine Haut angefühlt hätte? Und jetzt färbte ich mir das Haar, wo es grau wurde, hatte Fältchen um die Augen und den Mund, und mein Gesicht sah gealtert aus – nicht dass ich schlecht ausgesehen hätte, ich litt nicht über die Maßen an meinem Alter, aber es hätte mich auch niemand für jünger gehalten, als ich war. So viel Zeit war seit Andrews Tod vergangen. Das war es, was ich kaum glauben konnte, dass so viel Zeit vergangen war und der Unfall noch immer genauso unbegreiflich schien wie damals. Ich konnte es beschreiben, und wenn ich das in Worte fasste,klang es schrecklich und fern, tragisch, aber lange her. Doch in Wirklichkeit begriff ich das Geschehen genauso wenig, wie ich es 1963 begriffen hatte. Wie konnte ich mit meinem Auto Andrews rammen, und wie konnte es sein, dass ich ihn getötet hatte?
»Hast du ihn mehr geliebt als Daddy?«, fragte Ella.
Ich stutzte. »Ach, Liebling, so war es nicht. Es war nicht … Andrew und ich waren kein Paar. Wir waren befreundet, und wir haben einander viele Jahre lang nie aus den Augen verloren, aber wir sind nie miteinander ausgegangen. Wir kannten uns gut, weil wir in derselben Stadt lebten und in dieselbe Klasse gingen, aber das kann man nicht damit vergleichen, wie man sich kennt, wenn man zusammen lebt. Wir beide wissen schließlich fast alles über Daddy, oder? Wie es sich anhört, wenn er schnarcht, und welches sein Lieblingshemd ist und wie viele Eiswürfel er beim Abendessen gern in sein Glas Wasser tut.«
Ella lachte; wie Charlie schnarchte, amüsierte sie immer wieder.
»Und über dich weiß ich auch so gut wie alles«, sagte ich, »weil ich deine Mutter bin und weil ich dich liebe und weil du für mich das beste Mädchen auf der ganzen Welt bist.« Ich beugte mich über sie, um sie auf den Scheitel zu küssen, und musste dabei daran denken, was Charlie gesagt hatte, als ich am Tag nach unserer Hochzeit frühmorgens aus einem Traum von Andrew Imhof aufgewacht war:
Ich
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