Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
Vom Netzwerk:
spürte ich, dass er tot war. Und ich sollte recht behalten. Als Todesursache wurde Genickbruch festgestellt.
     
    Meine Erinnerungen an diese Zeit gleichen einer Auster in der Schale. Nicht offen zur Schau gestellt – dieses ekelhafte, blasse Fleisch, schwarz gerändert und violett verfärbt, das sich über die Gedärme der Auster erstreckt, der Schleim, die Exkremente, das farblose Blut –, aber auch nicht fest eingeschlossen. Die Schale ist ein paar Zentimeter geöffnet, und man könnte hineinschauen. Sie weiter zu öffnen wäre nicht schwer, doch die Auster ist verdorben, warum also sollte man es tun.
    Auf jegliche Fragen gibt es nur eine Antwort: natürlich. Wie würden
Sie
sich fühlen, wenn Sie für den Tod eines Menschen verantwortlich wären? Und damit nicht genug: Wenn Sie als siebzehnjähriges Mädchen den Jungen getötet hätten, in den Sie glaubten verliebt zu sein? Natürlich wünschte ich mir, es hätte mich statt ihn getroffen. Natürlich spielte ich mit dem Gedanken, mir das Leben zu nehmen. Natürlich dachte ich, niemals mehr würde Glück oder Ruhe in mein Leben einkehren, mir würde, mir
sollte
nie vergeben werden. Natürlich.
    Das Öffnen der Austernschale ist qualvoll und schmerzhaft. Meine Tat verfolgt mich, und noch heute ertrage ich es kaum, mir die Einzelheiten ins Bewusstsein zurückzurufen. All diese schrecklichen Momente, wahrlich ein Leben voller schrecklicher Momente – was nicht dasselbe ist wie ein schreckliches Leben. Doch zweifelsfrei, zweifelsfrei waren die Momente, kurz nachdem es geschehen war, die schlimmsten.
    Wenn ich heute behaupten würde, es vergehe kein Tag, an dem ich nicht an den Unfall, an Andrew, denke, so wäre das wahr und gelogen zugleich. Manchmal vergehen Tage, ohne dass mir sein Name über die Lippen kommt oder durch den Kopf geht, ohne dass ich daran denke, wie er in seinem Trikot und mit dem Helm unterm Arm zum Footballtraining davongeht. Dennoch trage ich den Unfall zeitlebens in mir. Er fließt durch meine Adern, schlägt in meinem Herzen, ist Haut, Haare, Lungen, Leber. Andrew starb durch meine Schuld, und wie einen Geliebten nahm ich ihn in mich auf.
     
    In dieser Nacht im Krankenhaus begriffen meine Eltern zunächst nicht, dass ich allein die Schuld an dem Unfall trug; sie dachten, wir wären beide dafür verantwortlich. Als sie eintrafen, war der Arzt gerade dabei, mein linkes Handgelenk mit einer zementfarbenen Bandage zu umwickeln, die in ihrer Trivialität geradezu peinlich wirkte, weniger eine richtige Verletzung als vielmehr eine Bitte um Nachsicht. Ich erhielt fünfundzwanzig Milligramm Librium, einen Kopfverband um die linke Schläfe, und eine Schwester trug eine durchsichtige gelbe Salbe auf die Schnittwunden an meinen Armen und Beinen auf.
    Ich erzählte meinen Eltern selbst von dem Stoppschild und davon, dass Andrew Vorfahrt gehabt hatte. Sie trugen dieselbe Kleidung, die sie getragen hatten, als ich vor weniger als einer Stunde das Haus verlassen hatte, und ich stellte mir vor, wie ich sie von ihrem Kartenspiel aufgescheucht hatte, wie ich gerade noch bei ihnen gewesen war. Die Wendung, die die Ereignisse genommen hatten, schien bizarr und verwirrend; alles war viel zu schnell gegangen.
    Als uns ein Polizeibeamter in dem leeren Wartezimmer erklärte, dass Andrew gestorben sei, rang meine Mutter nach Luft, und mein Vater nahm ihre Hand. Keiner von uns sagte ein Wort. Der Polizist stellte mir Fragen zum Unfall, unter anderem, wie schnell ich gefahren sei (ich war nicht gerast), und sprach danach mit meinem Vater allein. Sie redeten noch immer miteinander, als Mr. und Mrs. Imhof eintrafen und weggeführt wurden; den gesamten Weg den Flur entlang konnte ichseine Mutter weinen hören. Mein Vater beendete das Gespräch mit dem Polizisten und sagte: »Dorothy, wir nehmen sie mit nach Hause.«
    »Sollte sie nicht mit seinen Eltern sprechen?«, fragte meine Mutter.
    »Fürs Erste lassen wir sie lieber in Ruhe«, antwortete mein Vater.
    Auf dem Parkplatz sah ich, dass sich meine Eltern den Kombi der Janaszewskis geliehen hatten. Wir fuhren schweigend nach Hause, und als wir in der Amity Lane ankamen, ließ mein Vater meine Mutter und mich vor dem Haus raus und lenkte den Wagen auf die andere Straßenseite, um die Schlüssel zurückzugeben. Meine Großmutter war schon auf die Veranda gelaufen – das war ungewöhnlich, da sie meist nicht einmal aufstand, wenn man nach Hause kam, sondern lesend auf der Wohnzimmercouch verharrte – und rief: »Dem

Weitere Kostenlose Bücher